Die Teeprinzessin
feststellen, dass der Boden des Abteils fast genauso schwankte wie sie selbst. Das Wasser in der Karaffe schwappte, während diese immer wieder hoch hüpfte, das Glas war umgefallen und kullerte nun hin und her. So gondelte sie durch die Landschaft und konnte fast nichts von ihr sehen, außer einem üppigen und immer dunkler werdenden Grün, das den Fenstern des Zuges gefährlich nahe kam.
Betty wusste nicht, wie lange sie gefahren waren, als der Zug plötzlich abbremste und in einer kleinen Lichtung zum Ste hen kam. Die Außentür ihres Abteiles schwang auf, und ein Diener half ihr, aus dem Zug auszusteigen und auf das trockene Gras der Lichtung zu springen. Betty schaute sich neugierig um. Die Schienenstränge führten noch ein Stückchen weiter in den Dschungel hinein, aber dann endeten sie vor einer Wand aus Bäumen.
In einiger Entfernung wurde gerade ihr Gepäck auf einen Ochsenkarren verladen. Vollzählig war es anscheinend noch. Betty sollte auf einem zweiten Ochsenkarren Platz nehmen. Zwei junge Treiber mit weißen Turbanen standen neben dem Kopf des Ochsen, zwei weitere an seinen Hinterflanken. Sie
schnalzten. Dann setzte sich der ganze Zug rumpelnd in Bewegung. Betty war so müde, dass sie kaum noch die Augen offen halten konnte. Schlafen aber konnte man auf einem Ochsenkarren auch nicht, das merkte sie sofort. So saß sie schwankend auf dem kleinen Bänkchen, nahm all ihre Kraft zusammen, um nicht herunterzufallen, und starrte auf den mageren Hintern des Ochsen, der seinen Karren mit großer Ruhe in den Dschungel hineinzog.
Blätter streiften ihr Gesicht. Einige der Schlingpflanzen schienen ihre dürren Arme nach ihr ausstrecken zu wollen. Gelegentlich stemmten sich die Treiber wie auf ein geheimes Zeichen hin gegen Hals und Flanken des Ochsen, um ihn zum Stehenbleiben zu zwingen. Dann sprang einer der Männer mit gezogener Machete voran und hieb einen bestimmten Ast von einem Baum, oder er trat einen Schritt ins Unterholz, ließ sich vom Dschungel verschlucken und kam nach einigem Geraschel wieder heraus.
Als sich ein grünes Abendlicht über den Ochsenpfad senkte, spürte Betty plötzlich den Fluss. Es war nur ein feines Rauschen in der Luft, so als würde alles Leben jetzt dort hinstreben: winzige Mücken, handtellergroße Falter und sirrende bunte Insekten. Einmal sah Betty die leuchtenden Augen eines größeren Tieres im Unterholz aufleuchten. Die Ochsentreiber blieben stehen und lauschten, dann brachten sie das Gefährt wieder in Bewegung. Betty blinzelte zum Himmel hinauf, der sich als tiefgrüne Kuppel über ihr spannte, durch die ein Meer von goldenen Sternen blinkte. Sie schlief nicht, aber sie träumte.
Wie von Ava vorausgesagt, war es eine anstrengende Reise, viel anstrengender, als Betty geahnt hatte. Es musste weit nach Mitternacht sein, als sie endlich das Ufer des Ganges erreichten. Einen Hafen gab es hier nicht, nur einen Bohlenweg, der zu einem tieferen Gestade hinausführte. Dort lag ein mit Laternen
erleuchteter Raddampfer, der anscheinend schon auf sie gewartet hatte. Kleine Boote hatten an ihm festgemacht, die von Lichtern in bunten Glasschirmen erleuchtet wurden.
Einer der Diener, der neben Englisch auch ein paar Brocken Deutsch konnte, erklärte auf Bettys Nachfragen, dass das der Sicherheit auf dem breiten Fluss diene, denn viele der Schiffe führen den Fluss unbeleuchtet hinunter, ohne auf die Passagen zu achten, an denen Floße den Fluss querten. Zudem ändere sich die Stelle, an der das der Tiefe wegen überhaupt nur möglich war, manchmal mehrfach im Jahr. Dieses hier sei schon ihre dritte Passage in diesem Jahr. Der große Fluss behalte sich vor, sein Bett zu legen, wo er wolle. So würde auch die Fahrt mit dem Raddampfer möglicherweise sehr lange dauern, denn sie müssten die Strömung beachten. Für Betty stünde aber eine Kabine bereit.
Hinterher konnte sie sich kaum noch daran erinnern, wie sie auf das Schiff gekommen war und wie der Weg dann wieder mit einem Ochsenkarren weitergegangen war. Auf dem Schiff hatte es einen hell erleuchteten Speisesaal gegeben, dessen einziger Gast sie war. Auf der Speisekarte hatte Fisch gestanden. Nur Fisch, nichts sonst. Fisch sei die Empfehlung des Tages, hatte es geheißen. Aber Betty konnte nichts essen. Sie trank ein wenig Assamtee, es war die einzige Sorte, die es hier gab, und legte sich zum Schlafen in die große Kabine. Vor dem Morgengrauen hatte die feuchte Schwüle des Flusses sie geweckt, und als sie aus dem Fenster
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