Die Teerose
sich darauf. Das Lion war ein gefährlicher Ort heute abend. Ben Tillet, der Gewerkschaftsvertreter, hielt eine Rede, und jeder Mann in der Gegend setzte seinen Job aufs Spiel, wenn er hierherkam. Der Neuankömmling war Davey O’Neill, ein weiterer Dockarbeiter von Oliver’s. Paddy war überrascht, ihn zu sehen. Davey hatte klar zum Ausdruck gebracht, daß er mit der Gewerkschaft nichts zu tun haben wollte. Er war noch ein junger Mann und hatte bereits drei kleine Kinder. Er mußte zusehen, wie er sie ernährte, und hatte Angst, seine Arbeit zu verlieren.
»He, Davey, Junge!« rief Paddy und winkte ihn zu sich.
Davey, ein schlanker Mann mit semmelblondem Haar und ängstlichem Blick, begrüßte alle.
»Ein Glas für mich, Maggie, und eines für meinen Kumpel«, rief Paddy dem Barmädchen zu. Dabei stieß er versehentlich den Mann zu seiner Rechten an und kippte sein Glas um. Er entschuldigte sich und bot ihm an, ein neues Bier zu bestellen, aber der schüttelte den Kopf. »Macht nichts«, sagte er.
Die Gläser mit dem Bier wurden gebracht, und das Barmädchen nahm die auf der Theke aufgestapelten Münzen. Davey protestierte, aber Paddy winkte ab. »Was bringt dich her?« fragte er. »Ich dachte, du wolltest dich fernhalten?«
»Das wollt ich auch, bis heute. Bis Curran uns betrogen hat«, antwortete Davey. »Ich dacht mir, ich komm vorbei und hör mir an, was Tillet zu sagen hat. Ich will nicht beitreten, bloß zuhören. Ich weiß nicht, wem ich glauben soll. Die Gewerkschaft sagt, sie will sechs Pence die Stunde für uns rausschlagen, aber Burton sagt, er schmeißt uns raus, wenn wir beitreten. Wenn ich meinen Job verlier, bin ich erledigt. Lizzie, meine Jüngste, ist wieder krank. Schwach auf der Lunge. Ich kann mir die Medizin nicht leisten. Meine Frau tut, was sie kann, sie macht Breiumschläge, aber das hilft nicht, und das arme Würmchen schreit …« Davey brach ab, aber seine Kiefer mahlten weiter.
»Du brauchst mir nichts zu erklären, Junge. Wir sitzen alle im gleichen Boot«, sagte Paddy.
»Ganz recht«, warf Matt ein. »In dem mit dem Leck. Du hast Curran in der Mittagspause gehört.«
Paddy erinnerte sich an die Warnung, die er ihnen am Mittag mit auf den Weg gegeben hatte. »Denkt an eure Familien, Männer. Denkt an die Risiken, die ihr eingeht«, hatte er gesagt.
»Genau an die denken wir«, hatte er zurückgebrüllt. »Wir kommen auf keinen grünen Zweig, wenn wir nicht hart bleiben. Wir wissen, daß Burton mit Banken verhandelt, Curran. Er braucht Geld, um seinen Teehandel auszubauen. Du kannst ihm sagen, daß wir Burton Tea sind, und wenn er Verbesserungen machen will, kann er bei unseren Löhnen anfangen.«
»Männer, Männer«, hatte Curran gesagt. »Burton läßt sich von Leuten wie euch nicht am Zeug flicken. Gebt diese Sache mit der Gewerkschaft auf. Ihr werdet nie gewinnen.«
»Ich hab ihn gehört, Davey«, sagte Paddy jetzt. »Alles bloßes Gewäsch. Er will unbedingt die Firma vergrößern. Ein Kumpel unten von den Tee-Auktionen hat mir gesagt, daß er eine ganze Plantage in Indien kaufen will. Dafür will er Burton Tea an die Börse bringen, um das bezahlen zu können. Glaubt mir, wenn einer Angst hat, dann er. Angst, daß wir uns der Gewerkschaft anschließen und ihm ein paar Pennys mehr abpressen, also droht er, uns rauszuwerfen. Aber denkt doch mal nach … was wäre, wenn wir alle beitreten würden? Alle Jungs am Kai, alle Männer aus Wapping? Dann könnte er uns nicht rauswerfen. Wie sollte er Ersatz für uns finden? Alle Männer wären in der Gewerkschaft, versteht ihr, und kein Gewerkschafter würde den Job annehmen. Deshalb müssen wir beitreten.«
»Ich weiß nicht«, sagte Davey. »Zuhören ist eines, beitreten was anderes.«
»Na schön«, erwiderte Paddy und sah nacheinander seine Kollegen an. »So machen wir’s. Wir hören uns den Mann an. Er ist Dockarbeiter. Er weiß, wo uns der Schuh drückt. Wenn uns nicht gefällt, was er zu sagen hat, schadet’s auch nichts. Wenn doch, hat er vier neue Mitglieder.«
Alle waren einverstanden. Shane sagte, er wolle sich nach einem Tisch umsehen, Matt und Davey folgten ihm. Paddy bestellte noch ein Glas. Als ihm das Barmädchen nachschenkte, sah er auf seine Taschenuhr. Halb acht. Die Versammlung hätte vor einer halben Stunde beginnen sollen. Wo blieb Tillet bloß? Er sah sich im Pub um, entdeckte aber niemanden, der dem Gewerkschaftsführer geglichen hätte. Andererseits kannte er ihn nur von Bildern in den Zeitungen, und
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