Die Teerose
stellten sie ab. Der anfangs ruhig sprechende Mann hatte sich in einen Aufwiegler verwandelt.
Während Tillet gegen den Feind wetterte, dachte Paddy wieder an seine Bitte. Was sollte er machen? Er sah in die Gesichter der Dockarbeiter, harte Mienen, von den Spuren geprägt, die das schwere Leben in ihnen hinterlassen hatte. Gewöhnlich tilgte das Bier die Sorgen aus diesen Gesichtern. Glas um Glas. Es ließ den brüllenden Vorarbeiter, die traurigen Augen der Ehefrau, die unterernährten Kinder und die quälende Gewißheit vergessen, daß man, egal, wie hart man auch arbeitete, doch immer nur Dockarbeiter blieb und nie genügend Kohle im Herd und nie genügend Fleisch auf dem Tisch hatte. Aber heute abend wurden diese Gesichter von etwas anderem erhellt – von Hoffnung. Tillet führte ihnen die Möglichkeit des Siegs vor Augen.
Paddy dachte an seine Familie. Jetzt hatte er die Chance, an vorderster Front für sie zu kämpfen. Für mehr Geld, aber auch für etwas Größeres. Für einen Wandel, eine Stimme. Die hatten die Dockarbeiter noch nie gehabt. Wenn er Tillets Bitte ablehnte, wie konnte er dann in dem Bewußtsein weiterleben, für seine Kinder nicht das Beste getan zu haben?
Plötzlich brachen die Männer in Beifallsrufe aus und applaudierten. Paddy sah Tillet an, dessen zündende Rede die Zuhörer mitriß, und seine Begeisterung spiegelte sich auf ihren Gesichtern wider. Jetzt hatte er keine Zweifel mehr. Wenn Tillet ihn um seine Antwort bat, wüßte er, was er zu sagen hatte.
» Ergib dich jetzt, Jack Duggan, weil einer
gegen drei nichts ausrichten kann,
Ergib dich in der Königin Namen, denn du bist
Ein plündernder Mann …«
Fiona schreckte aus dem Schlaf auf, als der Gesang einsetzte. Er ertönte hinter dem Haus. Sie öffnete die Augen. Das Zimmer war dunkel. Charlie und Seamie schliefen fest, sie konnte ihr regelmäßiges Atmen hören. Es ist mitten in der Nacht, dachte sie benommen. Warum sang ihr Vater im Hinterhof?
Sie setzte sich auf, tastete nach der Lampe und den Streichhölzern. Ungeschickt zündete sie ein Streichholz an. Die Lampe warf nur ein schwaches Licht in den kleinen Raum, der während des Tages als Wohnzimmer und in der Nacht für sie, Charlie und Seamie als Schlafraum diente. Sie zog den provisorischen Vorhang zurück – ein altes Laken über einem Stück Draht –, der sie von ihren Brüdern trennte, und eilte in die Küche.
» Jack zog seine zwei Pistolen und hielt sie stolz ins Licht …«
Die Hintertür quietschte laut in den Angeln, und dann folgte das große Finale:
» Ich werde kämpfen, doch ergeben wird ich mich nicht! »
»Pa!« zischte sie und trat in den dunklen Hof hinaus. »Du weckst das ganze Haus auf mit deinem Geschrei. Komm rein!«
»Gleich, mein Schatz«, brüllte Paddy zurück.
»Pa! Scht!« Fiona trat wieder in die Küche, stellte die Lampe auf den Tisch und füllte den Wasserkessel. Dann stocherte sie die Glut im Kamin auf.
Paddy kam herein und lächelte dümmlich. »Wie’s scheint, bin ich ziemlich beduselt, Fee.«
»Das seh ich. Komm her und setz dich. Ich hab den Kessel aufgesetzt. Möchtest du ein Stück Toast dazu? Du solltest was in den Magen kriegen.»
»Ja, das wär fein.« Paddy ließ sich am Kamin nieder, streckte die Beine aus und schloß die Augen.
Fiona nahm einen Laib Brot aus dem Küchenschrank, schnitt eine dicke Scheibe ab und steckte sie auf eine Toastgabel. »Hier, Pa«, sagte sie und stieß ihren vor sich hin dösenden Vater an. »Paß auf, daß sie nicht verbrennt.«
Das Wasser kochte, und sie machte Tee. Dann zog sie einen Stuhl vom Tisch zum Kamin. Vater und Tochter saßen schweigend nebeneinander, Fiona wärmte sich die Füße an der Kaminumrandung, und Paddy wendete seinen Toast über der Glut.
»Na, mein Mädchen«, begann Paddy, seinen Toast kauend. »Soll ich dir meine Neuigkeit erzählen?«
»Was für eine Neuigkeit?«
»Heut abend trinkst du mit keiner gewöhnlichen alten Dockratte deinen Tee.«
»Ach nein? Mit wem dann?«
»Mit dem frischgebackenen Gewerkschaftsführer der Teearbeiter von Wapping.«
Fiona sah ihn mit aufgerissenen Augen an. »Du machst Witze, Pa!«
»Bestimmt nicht.«
»Seit wann?«
Paddy wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Seit heut abend. Ich hab vor der Versammlung im Pub eine Weile mit Ben Tillet geredet. Ihm die Ohren vollgequatscht, aber offensichtlich hat ihm gefallen, was ich gesagt hab, weil er mich gebeten hat, die Leitung der Ortsabteilung zu
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