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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Sigmund Freud, einem brillanten Arzt aus Wien, und seinen erstaunlichen Theorien über die menschliche Seele zu erzählen. Unter Sublimation verstehe man, wenn die Energie von Wünschen, die eine Person nicht ausleben könne oder wolle, dann auf ein anderes Gebiet im Leben dieser Person verlagert werde – auf die Arbeit zum Beispiel. Fiona hatte die Augen verdreht, aber er bestand darauf, daß diese Theorie ihren außerordentlichen Erfolg erkläre. Sie stecke alle Energie, die sie im Bett verausgaben sollte, in ihre Arbeit.
    »Warum versuchst du das nicht auch, Nick? Dich um deine Angelegenheiten zu kümmern«, hatte sie vorgeschlagen.
    »Ach, sei doch nicht so prüde, Fee. Wenn du schon mit deinem eigenen Mann nicht über Sex sprechen kannst, mit wem dann?«
    Daraufhin warf sie ihm ein Kissen an den Kopf und brachte ihn zum Schweigen. Doch ganz egal, was er auch denken mochte, wußte Fiona, daß ihr Zögern, eine Affäre zu beginnen, nichts mit Prüderie zu tun hatte. Sie wollte keinen Liebhaber. Sie wollte jemanden lieben. Will war ein Liebhaber gewesen, ein sehr geschickter dazu, aber obwohl ihr Körper auf ihn angesprochen hatte, war ihr Herz unberührt geblieben. Sie erinnerte sich, wie sie in ihrer ersten Nacht neben ihm gelegen und seinem Atem gelauscht hatte, während er schlief. Nie hatte sie sich so allein gefühlt. Sie wollte, was sie mit Joe gehabt hatte. Im Lauf der vergangenen zehn Jahre hatte sie Hunderte von Männern kennengelernt, viele von ihnen waren klug, tüchtig und attraktiv – viele hatten sich in sie verliebt. Sie hatte versucht, sich für einige von ihnen zu erwärmen, in ihren Augen einen Funken von dem zu finden, was sie in Joes gefunden hatte. Aber umsonst.
    Auf dem Rückweg zur West Street wanderte ihr Blick wieder zu dem blonden Kastanienverkäufer. Er versuchte, eine Gruppe Dockarbeiter zum Kauf zu bewegen, aber sie gingen gerade zum Essen nach Hause und hatten kein Interesse. Daraufhin versuchte er bei ein paar Fabrikmädchen sein Glück und danach bei einem Priester – aber ohne Erfolg. Zerlumpte Kinder scharten sich um ihn und bettelten um heiße Kastanien. Fiona bemerkte, daß er ihnen zuweilen welche zusteckte, und sah, wie ein kleines Mädchen sie in den bloßen Händen hielt und sich daran wärmte, bevor sie sie aß. Als er sich nach anderen Kunden umblickte, entdeckte er sie. Sofort umgarnte er sie mit seinen Sprüchen, lächelte und flirtete und erzählte ihr mehr über Kastanien im allgemeinen und seine hervorragende Ware im besonderen, als sie wissen wollte.
    »Kommen Sie, Missus, probieren Sie eine«, drängte er sie und warf ihr Kastanien zu, die sie auffangen mußte. »Da wären wir, meine Damen und Herren«, fügte er aufmunternd hinzu. »Ich hab noch nie ‘ne Frau erlebt, die nicht ein paar heiße Nüsse in die Finger kriegen möchte.«
    Die Gassenkinder kicherten. Eine ältere Frau mit einem Korb am Arm blinzelte ihr zu. Errötend zog Fiona ihren Geldbeutel heraus und ärgerte sich, daß sie wieder einmal dem Charme eines hübschen Straßenhändlers erlegen war.
    »Nehmen Sie eine Tüte oder zwei, Missus?«
    »Ich nehme alles, was Sie haben«, sagte sie und zog einen Schein heraus.
    Das verschlug ihm einen Moment lang die Sprache. »Was? Alle?« fragte er schließlich.
    »Ja, alle« antwortete sie mit Blick auf seine blauen Finger und dachte, daß er ein Paar ordentliche Handschuhe haben sollte.
    »Na schön«, sagte er, nahm seine Schaufel und füllte nahezu ein Dutzend Tüten. Fiona bezahlte und reichte sie dann den Kindern, die den Vorgang gierig beobachtet hatten. »Danke, Missus!« riefen sie, verblüfft über ihre Großzügigkeit. Sie lächelte, als sie mit ihren Geschenken davonliefen.
    Als sich der Verkäufer von seiner Kasse – einer alten Zigarrenschachtel – umdrehte, um Fiona das Wechselgeld auf ihre fünf Dollar herauszugeben, war sie verschwunden. Er suchte die Menge nach ihr ab und sah, wie sie Richtung West Street ging. Er rief ihr nach, aber sie wandte sich nicht um. Rasch bat er seinen Nachbarn, auf seinen Stand zu achten, dann rannte er ihr nach. Sie hatte fast vier Dollar Wechselgeld zurückgelassen. Gerade als er den Randstein erreichte, sah er, daß die Droschke, die sie angehalten hatte, im dichten Straßenverkehr verschwand. Wieder rief er ihr nach. Sie sah ihn durchs Rückfenster der Kutsche. Er winkte ihr mit den Scheinen nach. Sie wandte sich ab, und die Kutsche fuhr schneller.
    Der junge Mann sah ihr nach und wunderte sich, wie eine

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