Die Teerose
ihre ganze Zeit damit, weitere Teesalons und Lebensmittelläden zu eröffnen und ihren Teehandel auszubauen, und Nick arbeitete, um sich als der bedeutendste Händler für impressionistische Kunst zu etablieren. Beide waren den ganzen Tag außer Haus, jagten Geschäften hinterher, verdienten Geld und gingen ganz in ihrer Arbeit auf. Abends, nachdem Seamie von Mary abgeholt worden war, schleppten sie sich heim, öffneten eine Flasche Wein, aßen, was in der Küche des Tea Rose aufzutreiben war, hörten Seamie die Hausaufgaben ab, erzählten sich die Ereignisse des Tages, berieten und ermutigten sich.
Weder Fiona noch Nick zeigten Interesse an häuslichen Tätigkeiten, und beide scherzten, daß keiner von ihnen die Rolle der Frau übernehmen wollte. Die war inzwischen dem armen Foster zuteil geworden. Er entschied, was auf den Tisch kam, welche Blumen fürs Eßzimmer nötig waren und ob die Wäscherin die Laken weiß genug wusch.
»Eine Droschke, Missus?« rief ihr ein Kutscher zu und riß sie aus ihren Gedanken. Gerade als sie annehmen wollte, bemerkte sie, wo sie war: in der Gansevoort Street mit dem Freitagsmarkt. Dutzende Kohlefeuer leuchteten hell, und ihre heißen Flammen lockten die abendlichen Besucher an, eine Handvoll Kastanien, geröstete Kartoffeln oder heiße Suppe zu kaufen. Fiona hörte das Geplauder von zwei Frauen, die mit dicken Fäustlingen an den Händen schwere braune Becher umschlossen, während sich ihr Atem mit dem Dampf des heißen Getränks in der kalten Nachtluft mischte. Sie sah den Metzger, der eine Schnur mit Würsten hochhob, und roch frisch gebackene Doughnuts. »Nein, danke«, sagte sie zu dem Kutscher und winkte ab. Schnell bog sie von der West Street auf die Gansevoort ab und genoß es wie immer, auf einem Markt zu sein.
Mitgetrieben im Strom der Leute, erfreute sie sich allein am Zuhören und Beobachten. Sie sah die Holzkarren, auf denen vielerlei Waren aufgestapelt waren, angefangen von Winterobst und Wintergemüse bis hin zu gebrauchten Kleidern, Töpfen und Pfannen, billigem Zuckerwerk, Fleckenentfernern und Stärkungsmitteln. Händler priesen ihre Waren an, und sie hörte andächtig zu.
Beglückt schlenderte sie dahin, ihre Händlerseele wurde angestachelt, und neugierig blickte sie in jeden Stand und prüfte das Angebot auf jedem Wagen, als sie ihn sah: einen großen, blonden, gutaussehenden Burschen mit einem umwerfenden Lächeln. Er war von ihr abgewandt, aber sie sah sein Profil. Er trug eine abgeschabte Jakke, eine dunkle Mütze und ein rotes Halstuch. Seine Handschuhe hatten Löcher, und es schmerzte sie, daß seine Finger blau vor Kälte waren. Während sie ihn anstarrte, blinzelte er einer Kundin zu und reichte der Frau dann – mit einem Kompliment auf den Lippen – eine Tüte heiße Kastanien.
Als er sich in ihre Richtung wandte, sah sie sofort, daß er nicht der war, für den sie ihn gehalten hatte. Das Lächeln, die Form der Wangen und der Nase stimmten nicht. Seine Augen waren braun, nicht blau. Und er war erst ein Junge, vielleicht siebzehn Jahre alt. Der Junge, an den sie dachte, mußte inzwischen fast dreißig sein. Und er würde Peterson’s am Covent Garden führen, keine Kastanien verhökern. »Du siehst schon Gespenster, du dummes Ding«, sagte sie sich und schob es auf die Dunkelheit und daß sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Sie wandte sich ab und versuchte, über ihre Albernheit zu schmunzeln. Aber sie konnte nicht lachen.
An dem Tag, als sie Nick heiratete, stellte sie mit quälender Sicherheit fest, daß sie nie aufhören würde, Joe Bristow zu lieben. Einmal hatte sie versucht, sich etwas anderes einzureden, was verheerende Folgen zeitigte. Und obwohl es ihr schwerfiel, sich dies einzugestehen, hatte sie sich bemüht, damit zu leben. Sie versuchte, nicht an ihn zu denken. Wenn es doch geschah, sagte sie sich, daß sie Frieden mit ihm geschlossen hatte. Was zum größten Teil stimmte. Im Lauf der Zeit und aufgrund des riesigen Unterschieds zwischen ihrem früheren Leben und ihrem heutigen war schließlich Verständnis an die Stelle des Zorns getreten. Und Bedauern.
Joe war jung gewesen und hatte einen schlimmen Fehler begangen, der auch ihn verletzt hatte. Sie stellte sich vor, daß er inzwischen glücklich war, aber an jenem Abend auf den Old Stairs, als er ihr sagte, was er getan hatte, war sein Schmerz aufrichtig gewesen. Er war ein intelligenter, tatendurstiger junger Mann gewesen, der von seinem Vater und den Lebensumständen
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