Die Teerose
Kriminalbeamter über den toten Körper. Die vor ein paar Stunden noch lebendige Frau lag da wie ein ausgeweidetes Tier: auf den Rücken gedreht, die Beine obszön gespreizt, der Unterleib aufgerissen. Der Mörder hatte die glänzenden Eingeweide neben sie gelegt, ihre Schenkel aufgeschlitzt und das Fleisch dazwischen aufgehackt. Ein Schnitt klaffte an ihrem Hals wie ein granatfarbenes Band, und das geronnene Blut glänzte dunkel im Lampenschein.
»Gütiger Himmel«, sagte einer der Kriminalbeamten. »Wartet nur, bis die Zeitungen Wind davon kriegen, und alle ihre Eingeweide liegen noch hier herum.«
»Es darf keine Presse hierher. Absolut niemand«, bellte Chandler und sah von der Leiche auf. »Davidson«, sagte er zu dem Detective. »Nehmen Sie ein Dutzend Leute und stellen Sie sie vor dem Gebäude auf. Keiner kommt hierher, außer er hat mit der Untersuchung zu tun.«
Es war das bislang scheußlichste Verbrechen. Trotz all der Extrapatrouillen, nachdem Polly Nichols vor neun Tagen in der Bucks Row gefunden worden war, hatte der Mörder eine weitere Prostituierte zerstückelt.
Roddy hatte schon eine Menge Tote gesehen. Frauen, die von ihren Männern totgeschlagen worden waren, Kinder, die an Vernachlässigung und Hunger gestorben waren. Opfer von Bränden und Unfällen. Aber nichts war hiermit zu vergleichen. Dies war Haß – abgründig, irrsinnig, schwindelerregend. Wer immer diese Frau und die anderen umgebracht hatte, haßte sie mit einer unvorstellbaren Wut.
Jetzt hatte sich ein weiteres Bild von den Untaten des Mörders in sein Gedächtnis eingegraben, aber diesmal würde er nicht zulassen, daß es ihn nachts nicht schlafen ließ, diesmal würde er sein Entsetzen und seinen Zorn auf seine Arbeit verlagern. Sie würden den Mann fangen. Es war nur eine Frage der Zeit. Und wenn sie ihn hätten, würde er für seine Untaten am Galgen büßen. Selbst jetzt, als Dr. Phillips die Leiche untersuchte, durchkämmten Scharen von Polizisten und Kriminalbeamten die Gegend, suchten nach Hinweisen, klopften an Türen und befragten Anwohner, ob sie etwas gesehen und gehört hatten.
»Hier rüber«, sagte Dr. Phillips und ging vom Kopf der Frau zu ihrem Unterleib.
Roddy folgte und stieg über eine Blutlache. Er leuchtete mit der Lampe in die Bauchhöhle. Wieder krampfte sich sein Magen zusammen. Der süße, metallische Geruch ihres Bluts und der Gestank der menschlichen Organe und ihres Inhalts waren überwältigend.
»Der Hals wurde von links nach rechts durchschnitten. Sie ist erst seit einer halben Stunde tot, es ist noch keine Leichenstarre eingetreten«, erklärte Phillips dem Inspektor und machte weitere Notizen, während er sprach. »Die Verstümmelung am Unterleib ist schlimmer als das letzte Mal. Es sieht aus, als …«
Über ihren Köpfen wurde mit Gewalt ein klemmendes Fenster aufgerissen. Dr. Phillips sah auf, Roddy und die anderen folgten seinem Blick. Aus fast allen Fenstern der oberen Stockwerke des Hauses, das den winzigen Hof umgab, wurden Köpfe herausgestreckt, und Leute deuteten mit Fingern.
»Bitte schließen Sie die Fenster!« rief der Arzt. »Das ist kein Anblick für anständige Leute!«
Einige der Köpfe zogen sich zurück, die meisten ließen sich nicht beirren.
»Habt ihr nicht gehört? Schließt die Fenster, oder ihr kriegt eine Klage wegen Behinderung polizeilicher Arbeit!« brüllte Chandler.
»Das können Sie nicht tun, Meister!« antwortete jemand beleidigt. »Ich hab dem alten Kauz, der wo hier wohnt, zwei Pence für den Ausguck gezahlt.«
»Gütiger Gott«, stöhnte Phillips und wandte sich mit finsterem Blick wieder der Leiche zu. »Na los, laß uns hier fertig machen und sie dann zudecken. Damit sie nichts mehr zu glotzen haben, die verdammten Leichengaffer.«
Er beendete seine Untersuchung und entließ Roddy, der sich den anderen Polizisten vor dem Gebäude anschloß. Während der Inspektor und seine Beamten das Gebiet um die Leiche nach weiteren Hinweisen absuchten, sahen sich Roddy und seine Kollegen mit einer aufgebrachten Menge konfrontiert.
Eine Frau, die einen Männermantel über dem Nachthemd trug, funkelte ihn mit einer Mischung aus Angst und Zorn an. »Constable!« rief sie und machte ein paar Schritte auf ihn zu. »Das war er, ja? Der Whitechapel-Mörder. Er hat wieder zugeschlagen, nicht? Warum fangt ihr Bullen ihn nicht?«
Roddy hielt sich an seine Richtlinien und gab keine Antwort. Er richtete den Blick auf das Haus auf der anderen Straßenseite.
»Ihr
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