Die Teerose
Hilfe des Portiers, dem sie ihren Namen genannt hatte, alles zusammengereimt. Sie wußten, wer sie war, warum sie hergekommen war und was sie gehört hatte. Vielleicht brauchte er einen Tag, um sie zu finden, aber das Risiko wollte sie nicht eingehen. Sie mußten Whitechapel verlassen. Noch heute nacht.
Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen sollte, aber sie beschloß, einen Zug zu nehmen. Irgendeinen. Es war egal, wohin sie fuhren, solange sie nur weit genug von London fortkamen. Wenn sie wochenlang nicht mehr gesehen würde, würde Burton vielleicht aufgeben, glauben, sie sei untergetaucht, und sie vergessen.
Sie hatte keinen Koffer, also holte sie unter der Küchenspüle einen alten Mehlsack heraus und steckte Seamies Kleider hinein. Was sollte sie sonst noch mitnehmen? Sie nahm die Zigarrenkiste ihres Vaters vom Kaminsims und leerte den Inhalt auf den Tisch. Sie würde die Geburtsurkunden einpacken, die rote Haarlocke, die man Charlie als Baby abgeschnitten hatte und das Hochzeitsbild ihrer Eltern … mit der jungen Frau, die so hübsch und lebenslustig darauf aussah. Gott sei Dank würde ihre Mutter nie erfahren, daß der gutaussehende Mann an ihrer Seite ermordet worden war. Wenigstens war ihr das erspart geblieben.
Plötzlich überkam sie ein Zittern, sie schloß die Augen und lehnte sich an den Tisch. Obwohl ihr Denken funktionierte, stand sie noch immer unter Schock. Sie hatte es mit eigenen Ohren gehört und konnte es dennoch nicht fassen. Ihr Pa … war ermordet worden. Weil William Burton seinen Dockarbeitern anstelle von fünf Pence in der Stunde keine sechs zahlen wollte. Wieder kochte Wut in ihr hoch. Ich werde nicht weglaufen, dachte sie aufgebracht. Ich werde hierbleiben und zur Polizei gehen. Sie wird mir helfen. Bestimmt. Sie wird mich anhören … und ich werde sagen, was Burton getan hat, und die Polizei wird …
… mir ins Gesicht lachen. Wie absurd sich das anhören würde, wenn sie William Burton beschuldigte, ihren Vater ermordet zu haben. Niemals würde die Polizei einen Mann wie ihn aufgrund ihrer Beschuldigung belästigen, und selbst wenn sie es tat, würde er es nie zugeben. Er würde ihnen sagen, daß sie in sein Büro eingebrochen war, Gegenstände von ihm zerbrochen und sein Geld gestohlen hatte. Er würde behaupten, er habe sie auf frischer Tat ertappt und habe Zeugen dafür. Und sie käme ins Gefängnis. Seamie würde allein zurückbleiben. Roddy und Grace müßten ihn aufziehen. Es war aussichtslos! Burton hatte ihren Vater ermordet, und sie konnte nichts gegen ihn tun. Es gäbe nicht nur keine Gerechtigkeit, was seinen Tod anbelangte, auch sie selbst würde sicherlich bei einem Unfall umkommen, wenn sie London nicht verließ. Heiße Tränen liefen über ihre Wangen und fielen auf das Bild ihrer Eltern.
»Was ist denn los, Fee?« fragte Seamie.
Sie hatte nicht bemerkt, daß er sie beobachtete. »Ist schon gut, Seamie, Schatz«, antwortete sie und wischte sich die Augen ab.
»Gehen wir irgendwo hin?« fragte er und sah auf den Sack.
»Ja, wir machen eine Reise, wir beide.«
Er bekam große Augen. »Eine Reise? Wohin?«
Sie wußte es nicht. »Wohin? Ah … das ist … ähm … eine Überraschung. Wir fahren mit dem Zug, das wird ein Riesenspaß.«
Während Seamie Zuggeräusche machte, fuhr Fiona fort, den Inhalt der Zigarrenkiste auszusortieren. Die Eheringe ihrer Eltern … die würde sie mitnehmen. Das Klappmesser ihres Vaters ebenfalls. Mietquittungen … die konnten weggeworfen werden. Am Boden der Kiste fand sie einen Stapel Briefe von ihrem Onkel Michael.
Sie nahm einen heraus. Der Absender lautete: »M. Finnegan, 164 Eighth Avenue, New York City, New York, USA.« Sie hatte sich getäuscht. Vollkommen getäuscht. Roddy und Grace waren nicht die einzigen Menschen, die sie hatte. Sie hatte einen Onkel in New York. Michael Finnegan würde sie aufnehmen. Er würde ihnen helfen, bis sie auf eigenen Füßen standen, und sie würde es ihm vergüten, indem sie in seinem Laden arbeitete. »New York«, flüsterte sie, als würde der Ort Gestalt annehmen, wenn sie seinen Namen aussprach. Es war so weit weg. Auf der anderen Seite des Atlantiks. Dort wären sie sicher.
Die Entscheidung war sofort gefällt. Sie würden den Zug nach Southampton nehmen und dann ein Schiff nach Amerika. Mit Burtons Geld könnten sie die Überfahrt bezahlen. Schnell holte sie einen anderen Mehlsack hervor und schnitt ein Stück heraus. Sie knöpfte ihre Bluse auf, öffnete ihr Mieder und nähte
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