Die Teerose
vierrädrige Droschken, einen Pferdewagen und drei zweirädrige Kutschen. Und dann, keine drei Minuten, nachdem sie sich versteckt hatte, eine schwarze glänzende Privatkutsche, die schnell in Richtung Osten fuhr. Rasch trat sie in den dunklen Eingang zurück und beobachtete, wie einer der Fahrgäste dem Kutscher etwas zurief. Es war Sheehan. Die Kutsche nahm Geschwindigkeit auf, bog in die East Smithfield Street und auf den Highway ein und folgte der Route des Busses, in dem sie gesessen hatte. Sie schloß die Augen, lehnte sich an die Wand und begann zu zittern.
»Alles in Ordnung, Miss?«
Sie riß die Augen auf und sah in das Gesicht eines triefäugigen alten Mannes, der gerade das Pub verließ.
»Wenn Sie auf einen Drink aus sind, und, wenn Sie mir erlauben, Sie sehen ganz so aus, als könnten Sie einen vertragen, dann gehen Sie durch den Schankraum in den Damensalon.«
Ein Drink. Ja, das war eine gute Idee. Sie hatte sich noch nie einen Drink in einem Pub bestellt, aber jetzt schien ein guter Zeitpunkt zu sein, um damit anzufangen. Sie konnte sich ein paar Minuten setzen, versuchen, ihre zitternden Beine wieder unter Kontrolle zu bringen, und sich überlegen, was sie als nächstes tun sollte.
Sie ging hinein, durchquerte den dichtbesetzten, verräucherten Schankraum und bewegte sich auf die Tür mit der Aufschrift DAMEN zu. Dahinter fand sie sich allein in einem schmuddeligen, mit Gaslicht beleuchteten Raum wieder, in dem es ein paar Holztische, samtbezogene Stühle und Spiegel gab. Von den Wänden löste sich die Tapete. Der Wirt eilte ihr nach, nahm ihre Bestellung auf und verschwand wieder. Nachdem sie sich gesetzt und ihr Haar geordnet hatte, kam er mit einem Glas Bier zurück. Sie griff in ihre Tasche, um ein paar Münzen herauszuholen, und spürte das Rascheln von Papiergeld. Was war das? fragte sie sich und sah nach. Als sie die Geldscheine entdeckte, setzte ihr Herz ein paar Schläge aus. Schnell fischte sie einen halben Shilling heraus und reichte ihn dem Wirt, der ihr herausgab.
Erneut sah sie in ihre Tasche. Wie zum Teufel kamen die Geldscheine da hinein? Sie rief sich die Szene in Burtons Büro wieder in Erinnerung. Sie hatte mit Sachen geworfen, mit allem, was ihr in die Hände kam. Sie mußte Geld in der Hand gehabt haben, als er nach Sheehan rief, und es in die Tasche gestopft haben, als sie davonrannte. Sie zog das Bündel heraus. Es war ein Bündel Zwanzigpfundnoten. Nachdem sie sie abgezählt hatte, steckte sie sie wieder in die Tasche. Sie besaß fünfhundert Pfund von Burtons Geld.
Sie hob das Glas an den Mund, leerte es mit einem Zug und leckte sich dann den Schaum von den Lippen. Dann sah sie ihr Spiegelbild an, nickte sich zu und sagte: »Du bist tot.«
»Mein Gott, Kind, wo bist du gewesen? Ich hab mich zu Tode geängstigt«, sagte Grace.
Kurz nach acht war Fiona erhitzt und außer Atem vor ihrer Tür angekommen.
»Tut mir leid, Grace. Ich war bei Burton Tea, wo ich die Wiedergutmachung für den Tod von meinem Vater abholen wollte. Sie haben mich Ewigkeiten warten lassen! Ich bin den ganzen Weg heimgerannt, weil ich dich nicht so lange warten lassen wollte«, antwortete sie und zwang sich zu einem Lächeln.
»Und da war noch jemand? Die müssen ja schrecklich lang arbeiten bei Burton’s.«
»Ja, das stimmt. Der Mann ist ein Sklaventreiber.« Sie sah ihren Bruder am Tisch sitzen, der von einem Buch mit Kinderreimen aufblickte. »Komm, Seamie, Schatz, wir müssen gehen.« Sie knöpfte seine Jacke zu und dankte Grace. Vielleicht würden sie sich nie wiedersehen. Die Kehle schnürte sich ihr zu. Grace und Roddy waren die einzigen Menschen auf der Welt, die sie hatte, und morgen würden sie ebenfalls aus ihrem Leben verschwunden sein. »Danke, Grace«, sagte sie noch einmal.
Grace lachte. »Sei nicht albern, wofür denn? Er ist ein Engel.«
»Ich mein nicht bloß für heut abend. Ich mein für alles, was du für uns getan hast.«
»Ach komm«, antwortete sie verlegen. »Ich hab doch nichts getan.«
»Doch, das hast du, und ich werd’s dir nie vergessen«, erwiderte Fiona und umarmte sie fest.
Als sie zur Lion Street kam, wo Roddy wohnte, sah sie sich um, ob niemand auf der Straße herumlungerte. Dann eilte sie ins Haus und lief die Treppe hinauf. Sie sperrte die Wohnung auf, schob Seamie vor sich hinein, schloß ab und klemmte einen Stuhl unter die Klinke. Sie begann zu packen. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Sheehan suchte bereits nach ihr. Er und Burton hatten sich mit
Weitere Kostenlose Bücher