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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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drei Seiten des Stoffstücks an, um eine Tasche zu machen. Dann nahm sie die Geldscheine aus ihrem Rock und steckte sie hinein, nur einen behielt sie zurück. Sie wollte zur Commercial Road gehen, wo sie eine Droschke zum Bahnhof nehmen konnten, aber vorher wollte sie bei einem Leihhaus haltmachen, um sich eine Reisetasche zu besorgen. Sie konnte nicht mit einem Mehlsack nach New York reisen.
    »Gehen wir jetzt, Fee?« fragte Seamie, der inzwischen ganz aufgeregt war.
    »Noch eine Minute. Ich muß nur Onkel Roddy noch eine Nachricht schreiben.«
    »Warum?«
    »Um ihm von unserer Reise zu erzählen«, antwortete sie. Um ihm Lebewohl zu sagen, dachte sie. »Sei ein guter Junge und zieh deine Jacke an.«
    Fiona suchte nach einem Blatt Papier und überlegte, was sie schreiben sollte. Sie hätte Roddy gern die Wahrheit gesagt, wollte aber nicht, daß er sich Sorgen machte, und vor allem wollte sie ihn keiner Gefahr aussetzen. Sheehan würde sicher in seiner Wohnung auftauchen, wenn er erfuhr, daß sie hier gelebt hatte. Sie bezweifelte, ob er dumm genug war, sich mit einem Polizisten anzulegen, aber er würde einbrechen, in der Hoffnung, etwas über ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Sie fand einen Stift und begann zu schreiben.
     
    Lieber Onkel Roddy,
    ich habe mein Geld von Burton Tea bekommen. Es ist mehr, als ich dachte, und ich werde es benutzen, um mit Seamie irgendwo ein neues Leben zu beginnen. Bitte mach Dir keine Sorgen um uns, wir schaffen es schon. Es tut mir leid, daß ich so plötzlich weggehe, aber so ist es leichter für mich. In letzter Zeit gab es zu viele schmerzliche Abschiede für mich, und ich möchte noch heute nacht fort, bevor ich den Mut verliere. Danke, daß Du für uns gesorgt hast. Ohne Dich hätten wir es nicht geschafft. Du bist wie ein Vater zu uns gewesen, und wir werden Dich mehr vermissen, als ich sagen kann. Ich schreibe Dir, wenn ich kann.
    Alles Liebe,
    Fiona und Seamie
     
    Keine Namen, keine Adresse. Sie legte den Zettel auf den Tisch und fühlte sich schrecklich, einfach so wegzulaufen, aber es war nicht zu ändern. Roddy könnte ihr nicht helfen, wenn Sheehan sie fand. Sie warf einen letzten Blick auf die Wohnung, nahm ihren Bruder und den Sack, öffnete die Tür, schloß hinter sich ab und schob den Schlüssel unter der Tür durch.
    Gerade als sie die Treppe hinuntergehen wollte, hörte sie, wie die Vordertür aufging. Schwere Schritte ertönten im Gang, und sie vernahm Männerstimmen. Drei. Sie spürte, wie sie am Rock gezupft wurde. »Fee …«, begann Seamie. Sie hielt ihm den Mund zu und befahl ihm, still zu sein. Die Stimmen waren leise, die Worte undeutlich zu verstehen, aber einer der Männer trat näher an die Treppe, und jetzt verstand sie ihn ganz deutlich. »Da wohnt der Bulle«, sagte der Mann. »Sie muß auch dasein.«
    Es war Sheehan.
    Verzweifelt suchte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel zu Roddys Wohnung. Sie mußte hineingehen, Seamie verstecken. Wo war der verdammte Schlüssel? Sie drehte ihre Tasche um, dann fiel ihr ein, daß sie ihn unter der Tür durchgeschoben hatte. Weit weg, damit niemand ihn erreichen konnte. Verzweifelt und voller Angst klopfte sie, so leise sie konnte, an der Tür der Nachbarin. »Mrs. Ferris«, rief sie leise. »Mrs. Ferris … sind Sie da? Bitte, Mrs. Ferris …« Keine Antwort. Sie versuchte es an einer anderen Tür. »Mrs. Dean? Danny? Seid ihr da?« Niemand antwortete. Entweder waren sie nicht zu Hause, oder sie hörten sie nicht.
    Erneut lauschte sie am Treppengeländer. Gesprächsfetzen drangen nach oben. »… im zweiten Stock … ihr müßt aufpassen … nicht hier … zuviel Lärm.« Plötzlich waren Schritte auf der Treppe zu vernehmen. Im Nu wären sie auf dem ersten Absatz, und dann wären es nur noch ein paar Stufen bis zum zweiten. Ihre Angst schlug in Panik um. Sie nahm Seamie auf den Arm, eilte zum dritten Absatz hinauf und hoffte, daß das Geräusch ihrer eigenen Schritte im Gepolter der Männer unterging. Sie hörte, wie sie vor Roddys Tür stehenblieben, dann ertönte ein leises Scharren.
    »Na los, mach schon«, sagte Sheehan. »Meine Großmutter kann ein Schloß schneller knacken als du.«
    Als sie die Tür aufgehen und die Männer hineingehen hörte, eilte sie die letzten Stufen treppauf. Wenn sie aufs Dach hinauskäme, könnte sie sich zum Nachbargebäude hinübertasten und sich hinter den Kaminen verstecken, bis Sheehan fort war. Sie erreichte den Absatz, der mit Gerümpel vollgestopft war, mit

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