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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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sie beim Besuch in Nevilles Kanzlei gehört und die sie so unerklärlich angezogen hatte. Weil es seine Stimme war. »Barton oder Barston«, hatte Neville gesagt. »Ich kann mir Namen so schlecht merken.« Nein, es war Bristow. Joe Bristow. Ihr Joe.
    Sie konnte kaum atmen, während sie ihn beobachtete. Er unterhielt sich mit einem Paar, lächelte und hatte die Hand auf die Schulter des Mannes gelegt. Sie war so bewegt, daß ihr plötzlich die Tränen kamen. Neulich, in seinem Büro in Covent Garden, hatte sie geglaubt, sie käme damit zurecht, ihn wiederzusehen. Aber stimmte das auch? Sie konnte sich ja kaum auf den Beinen halten. Schon bei seinem bloßen Anblick wurde sie von Liebe und Sehnsucht überwältigt – Gefühle, die sie längst besiegt zu haben glaubte. Sie wollte zu ihm gehen, seine Stimme hören, seine Hand berühren, wieder in seine Augen sehen. Die Arme um ihn schlingen, seine Arme um sich spüren und nur für ein paar Sekunden so tun, als hätten sie sich nie getrennt.
    Während sie ihn betrachtete, jede Einzelheit an ihm in sich einsaugte – die Art, wie er die Hände in den Taschen vergrub, wie er den Kopf beim Zuhören reckte –, wurde er plötzlich von drei lebhaften blonden Kindern umringt. Er hob das Jüngste hoch, küßte es auf die Wange und nahm dann eine Süßigkeit von einem Tablett, um es ihm zu geben. Es mußte seine kleine Tochter sein. Alle drei waren seine Kinder. Seine und Millies. Weil er mit Millie verheiratet war, seit zehn Jahren, und nichts mit ihr zu tun haben wollte.
    Sie wandte sich von dem Geländer ab, denn ihr drohte schlecht zu werden. Sie mußte raus hier. Sofort. Bevor er sie sah. Sie wollte nicht als liebeskranke Närrin erscheinen, die sich einfach nicht fernhalten konnte. Nicht als verzweifelte, erbärmliche Frau.
    Neville sah ihren angespannten Gesichtsausdruck. »Fiona? Was ist? Was haben Sie?«
    Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Nichts, Neville. Ein bißchen schwindelig, das ist alles. Ich vertrage die Höhe nicht.« Dann erklärte sie ihm, daß sie alles sehr genossen habe, aber müde sei und einen schweren Tag vor sich habe, weshalb sie in ihr Hotel zurückmüsse. Sie bat ihn, Charlotte ihre Grüße auszurichten, ihn würde sie am Dienstag in seinem Büro treffen.
    Dann ging sie die lange, geschwungene Treppe hinunter. Sie hatte eine Seitentür entdeckt, durch die sie sich davonstehlen wollte. Sie wollte rennen, zwang sich aber zu gemessenem Schritt. Als sie das Erdgeschoß erreicht hatte, schlängelte sie sich durch die Menge auf die Tür zu. Sie führte auf eine Gasse entlang des Gebäudes hinaus. Sobald sie draußen war, begann sie zu rennen. Aus der Gasse auf die Straße hinaus, wo sie sofort eine Droschke fand.
    Im Innern des Wagens ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Der Kutscher hörte ihr ersticktes Schluchzen. Besorgt wandte er sich um und fragte, ob alles in Ordnung sei.
    »Nein, das ist es nicht. Ganz und gar nicht«, erwiderte sie, zu sehr außer sich, um sich zu schämen, vor einem völlig Fremden in Tränen ausgebrochen zu sein.
    »Ach, erzählen Sie mir nichts – es geht um einen Mann, nicht wahr?« fragte er.
    Sie nickte.
    »Wie dumm von Ihnen, Missus. Eine schöne Frau wie Sie … Sie könnten doch jeden Tag einen Besseren kriegen. Ich würde ihn in den Wind schießen.«
    Fiona seufzte. »Das sag ich mir auch. Vielleicht glaub ich’s eines Tages ja auch.«
     
    »Sie war’s«, sagte Joe, als er vor seinem Geschäft stand und unter den vielen Menschen verzweifelt nach einer Frau in einem cremefarbenen Kleid Ausschau hielt. Diese blauen Augen, dieses Gesicht … es war Fiona. Sie war hier.
    Er hatte sie auf der Treppe entdeckt. Der plötzliche Schock, sie zu sehen, war so groß gewesen, daß er sein Glas fallen ließ. Doch bevor er ihren Namen rufen konnte, war sie unten und durch eine Seitentür verschwunden. Er war ihr nachgelaufen, wegen der Gästemenge aber nur langsam vorangekommen. Als er endlich die Straße erreicht hatte, war sie fortgewesen.
    Fiona. Hier in London. In seinem Laden. Er hatte sie gesehen. Er ging ein paar Schritte den Gehsteig hinunter, sah in Kutschenfenster, überquerte die Straße, blickte sich überall um, konnte sie aber nirgendwo finden.
    Sie war es, dachte er. Aber sie lebt doch in New York, nicht in London. Mit ihrem Mann.
    »Joe!« rief jemand. »Joe … hier drüben!«
    Er drehte sich um. Es war Cathy. Sie winkte ihm zu.
    »Wo bist du denn gewesen?« fragte sie ihn, als er zu ihr kam. »Ich hab dich

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