Die Teerose
»Das kann nicht sein. Das kann nicht sein.« Dann kniff er die Augen zu und ignorierte die Rufe, die Fragen, den Lärm um sich. Als er sie wieder öffnete, sah er Fiona an und schrie: »Wer sind Sie?«
Es wurde still im Raum. Fiona schlug den Schleier zurück und stellte sich seinem haßerfüllten Blick. Zuerst zeichnete sich nur Verwirrung auf seinem Gesicht ab, aber schließlich schien er sie zu erkennen. »Sie!« zischte er. Im Raum war es so still wie in einer Grabkammer.
»Sie erinnern sich an mich, Mr. Burton?« fragte sie. »Ich bin geschmeichelt. Ich erinnere mich noch sehr gut an Sie. Ich erinnere mich, daß ich eines Abends in Ihrem Büro stand und mitbekam, wie Sie und Mr. Sheehan über den Mord an meinem Vater redeten. Ich war gekommen, Sie um Geld zu bitten, eine Wiedergutmachung für den sogenannten Unfall meines Vaters. Damit mein Bruder und ich Essen kaufen und die Miete für ein Zimmer bezahlen konnten. Ich hab allerdings mehr bekommen, als ich erwartet hatte. Erinnern Sie sich an den Abend? Er war ein Gewerkschafter, mein Vater. Er wollte, daß die Dockarbeiter einen Penny mehr in der Stunde bekämen. Um ein paar zusätzliche Lebensmittel für ihre Kinder oder eine warme Arbeitsjacke zu kaufen. Einen Penny mehr. Und Sie …« Sie hielt inne. Der Zorn hatte ihr Tränen in die Augen getrieben, sie mußte schlucken. »… Sie wollten das nicht bezahlen. Mr. Sheehan hat beschrieben, wie er den Tod meines Vaters bewerkstelligt hat. Und Sie haben gelacht. Noch immer höre ich Ihr Lachen in meinen Alpträumen, Mr. Burton. Ich erinnere mich, wie ich aus Ihrem Büro fliehen wollte und stolperte. Sie haben mich gehört. Sie und Mr. Sheehan. Und Sie haben mich verfolgt. Mr. Sheehan versuchte, mich in dieser Nacht umzubringen. Aber ich hatte mehr Glück als mein Vater. Ich bin entkommen. Meinen Erinnerungen konnte ich jedoch nicht entfliehen. Ich hab mir geschworen, daß Sie für Ihre Tat bezahlen würden. Und das haben Sie. Burton Tea gehört mir.«
Wieder brach Chaos im Raum aus. Leute redeten laut und schrien. Einige preßten Taschentücher an die schwitzende Stirn. Andere drängten sich vor, um einen Blick auf die Dokumente zu werfen. Reporter riefen Fionas Namen. Sie hörte sie gar nicht. Burtons Blick hatte sich an ihr festgesaugt. Sie erwiderte ihn ungerührt. Nackter Haß stand zwischen ihnen.
»Du hinterhältiges Miststück. Ich wünschte, ich hätte dich abgemurkst, als ich die Möglichkeit dazu hatte«, stieß er hervor. »Dann wärst du sechs Fuß unter der Erde wie dein verdammter Vater.«
»William … um Himmels willen!« rief Giles Bellamy aus. Aschfahl trat er vom Tisch zurück.
»Mrs. Soames!« rief ein Reporter. »Hierher!«
Weißes Blitzlicht flammte auf, es roch nach Rauch. Jemand hatte es geschafft, eine Kamera einzuschmuggeln. Fiona blinzelte geblendet. Mehr brauchte Burton nicht. Mit einer einzigen raschen Bewegung zog er ein Messer aus seinem Jackett und holte gegen sie aus.
Lawton sah es kommen. Er packte Fiona an der Jacke und zog sie zurück. Die Klinge verfehlte ihre Kehle um Haaresbreite, durchschnitt den Stoff, fuhr über ihr Schlüsselbein und drang in das weiche Fleisch darunter ein.
»Haltet ihn!« rief Neville.
Drohend sein Messer schwingend, lief Burton aus dem Konferenzraum und verschwand durch eine Seitentür hinter dem Podium. Eine Gruppe von Männern lief ihm nach, aber die Tür war versperrt. Von überall ertönte der Ruf, ihn festzuhalten. Einige schlossen sich der Jagd an, andere umringten Fiona.
David hatte sie auf einen Stuhl gesetzt und Taschentücher auf ihre Wunde gedrückt, die sofort mit Blut durchtränkt waren. »Ich brauche mehr Taschentücher … ein Hemd … irgend etwas«, rief er. Ein Dutzend Taschentücher wurden ihm gereicht. Er knüllte sie zusammen und drückte sie auf die Wunde. Fiona schrie auf. Der Schmerz war unerträglich.
»Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen!« befahl Neville.
»Giles, holen Sie die Kutsche …«
»Dafür ist keine Zeit«, sagte David. »Die Straße ist verstopft. Es dauert viel zu lange, bis der Kutscher durchkommt. Wir müssen sie tragen, das geht am schnellsten!«
David hob sie hoch, und Neville bahnte ihnen mit seinem Spazierstock den Weg durch die murmelnde Menge. Giles sammelte die inzwischen blutverschmierten Dokumente zusammen und bildete die Nachhut. Draußen auf dem Gehsteig lief er voran und rief nach der Kutsche. Der Kutscher sah ihn und fuhr an die Ecke Mincing Lane.
»Zum London Hospital,
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