Die Templerin
dem Sonnenuntergang wieder zu Hause zu sein, wie sie es ihrer Mutter versprochen hatte.
Aber schon am Abend danach kehrte sie zur Kapelle zurück und ebenfalls am folgenden und auch am darauffolgenden. Sie blieb nie lange, einige Minuten nur, gerade lange genug, um einen frischen Blumenstrauß auf das Grab zu legen und einige Augenblicke lang in sich hineinzulauschen. Aber der Schmerz war immer noch da; und ein Sehnen nach etwas, von dem sie nicht einmal wußte, was es war.
Als sie sich von Helles Grab abwandte, sah sie sich ihrer Mutter gegenüber. Sie erschrak. Sie hatte nicht einmal gemerkt, daß ihre Mutter ihr gefolgt war, und sie fragte sich, warum.
»Du solltest damit aufhören, Kind«, sagte ihre Mutter.
Robin wußte sehr genau, was sie meinte. Trotzdem legte sie den Kopf auf die Seite und fragte: »Womit?«
»Dich zu quälen.«
»Ich quäle mich nicht«, behauptete Robin. »Ich bin nur hier, um Helles Grab zu pflegen. Ich habe frische Blumen gebracht.«
Ihre Mutter bedachte das Grab mit einem langen, nachdenklichen Blick. Robin hatte im Laufe der vergangenen vier Tage genug Blumen darauf gehäuft, daß die nähere Umgebung der Kapelle leergepflückt sein mußte.
»Du lügst«, sagte sie ruhig. Sie klang nicht zornig, aber sehr traurig. »Aber ich…«
»Und das Schlimme ist, du weißt es nicht einmal«, fuhr ihre Mutter leise fort. Sie schüttelte den Kopf, sah sich anscheinend nach einem Platz um, an den sie sich setzen konnte, und beließ es dann bei einem Achselzukken. »Wir müssen miteinander reden, Robin.«
»Warum?«
Ihre Mutter lächelte traurig. Sie antwortete jedoch nicht gleich, sondern drehte sich halb herum und sah erst auf das linke, dann auf das rechte der beiden Gräber hinab, die das Helles flankierten.
»Welches der beiden ist das von Jan?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Robin wahrheitsgemäß. Bei diesen Worten fühlte sie einen dünnen, aber tiefgehenden Stich.
»Das ist schlimm«, sagte ihre Mutter leise. »Arn Grab eines geliebten Menschen zu stehen und nicht zu wissen, ob vielleicht er darin liegt oder der, der für seinen Tod verantwortlich ist…«
»Geliebt? Ich habe ihn …«
»Natürlich warst du in ihn verliebt«, unterbrach sie ihre Mutter. »Du hast es vielleicht selbst nicht gemerkt, aber du warst es. Und wie könntest du auch nicht? Du bist ein einfaches Mädchen, das noch nie aus seinem Dorf herausgekommen ist, und er war ein Ritter. Ein Mann, der die Welt gesehen hat und der spannende und aufregende Geschichten zu erzählen wußte. Natürlich bist du ihm erlegen.«
»Das bin ich nicht«, antwortete Robin scharf - schärfer, als sie selbst beabsichtigt hatte. Sie dämpfte ihren Ton, fuhr aber trotzdem fort: »Er hat mich nicht angerührt!«
»Das habe ich auch nicht gemeint«, sagte ihre Mutter. »Es wäre schlimm genug, hätte er es getan - aber er hat etwas viel Schlimmeres getan.« Robin war kurz davor, sich einfach herumzudrehen und ihre Mutter stehenzulassen - ein Gedanke, der so ungeheuerlich war, daß ihr bei der bloßen Vorstellung der Atem stockte.
Und als hätte ihre Mutter ihre Gedanken gelesen, sagte sie: »Ich sehe, du weißt, was ich meine.«
»Nein«, antwortete Robin feindselig. »Ich weiß nur, daß wir dieses Gespräch schon einmal geführt haben.«
»Und daß du da offenbar genausowenig verstanden hast wie jetzt, was ich meine.« Ihre Mutter seufzte. Sie zwang sich zu einem Lächeln und streckte die Hand aus, aber Robin rührte sich nicht von der Stelle. Nach einem Moment ließ sie den Arm enttäuscht wieder sinken.
»Oh, Robin«, seufzte sie. »Glaubst du denn wirklich, daß ich nicht genau wüßte, was du fühlst? Ich weiß es.« Sie zögerte einen winzigen Moment. »Ich weiß es, weil ich dasselbe durchgemacht habe.«
»Du?« fragte Robin erstaunt.
»Ich hatte gehofft, dir dies niemals erzählen zu müssen«, sagte ihre Mutter leise. »Manchmal ist es leichter, Dinge nicht zu wissen, glaube mir. Aber vielleicht stimmt das auch nicht. Vielleicht habe ich nur dasselbe getan wie du und mich selbst belogen.«
»Was ist passiert?« fragte Robin.
»Dasselbe, was dir passiert ist«, antwortete ihre Mutter. »Ich habe einen Mann kennengelernt. Deinen Vater.«
»Den Soldaten?«
»Ja.«
»Aber du hast doch erzählt, daß ihr glücklich miteinander wart!«
»Das waren wir auch«, antwortete ihre Mutter. »Oh ja, ich war glücklich. Es waren die glücklichsten sechs Monate in meinem Leben, glaub mir. Ich möchte sie um nichts auf
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