Die Terranauten 055 - Das Wrack-System
gestattet, befassen wir uns sofort mit den Unklarheiten um Straightwire …, oder wer er sein mag. Darauf gebe ich dir mein Wort.«
Maury schniefte. »Gut. Hoffentlich ist es dann nicht zu spät.« Mit gesenktem Kopf verließ sie den Hangar und kehrte nach oben auf die Zentralebene zurück. Als sie aus dem Lift trat, sah sie auf dem Panoramabildschirm, wie sich der Ringo entfernte.
Straightwire lag zusammengesunken in einem Schalensitz. Er wirkte erschöpft. Seine Lider waren geschlossen, als befände er sich in tiefer Konzentration – oder sogar in einer Trance. Maury betrachtete das schmallippige Gesicht, umrahmt von leicht lockigem silbergrauem Haar, in einer Mischung aus Interesse und Argwohn. Sie mißtraute ihren eigenen Gefühlen. Sie konnte verstehen, was ihrer Schwester an diesem Mann gefiel:
Er sah gut aus – sah aus nach Charakter, Besonnenheit, Ruhe, Stärke, Zuverlässigkeit … Treue, dachte Maury. Das ist der richtige Begriff. Er macht einen Eindruck wie eine Verkörperung der Treue.
Straightwire hob die Lider. Seine grauen Augen erfaßten Maury mit einem Blick. Sie widerspiegelten Wachsamkeit, aber nur einen unbedeutenden Anflug der Erschöpfung, die sein Äußeres überwältigt hatte. »Treue«, sagte er ausdruckslos. »Maury«, fügte er hinzu, ehe die Treiberin irgendwie reagieren konnte, »was glaubst du, wie lange Treue dauern kann?«
»Das kommt darauf an«, entgegnete Maury verwirrt. »Man sagt …, ein Menschenleben lang.«
»Ein Menschenleben? Hundert Jahre oder länger?« Straightwire lachte auf. »Wie wenig, Maury. Was für eine kurze Zeit. Kannst du dir keine längere Treue vorstellen?«
»Es gibt Menschen, die zweihundert Jahre alt sind«, meinte Maury vorsichtig. Sie wußte sich nicht auszumalen, worauf das alles hinauslaufen sollte.
»Kannst du dir eine Treue vorstellen, die tausend Jahre hält?«
»Vielleicht …« Maury hob die Schultern. »Es soll Lebewesen geben, die wesentlich älter werden als Menschen. Wenn ich nur an die Weltenbäume denke …«
»Länger?« beharrte unbeirrt Straightwire. »Kannst du dir eine Treue vorstellen, die über Zehntausende, über Hunderttausende von Jahren hinweg währt?«
»Kaum.« Maury schüttelte den Kopf. Langsam fühlte sie sich unbehaglich.
»Länger?« bestand hartnäckig Straightwire. Der Blick seiner grauen Augen gab sie nicht frei. »Und dann vielleicht … vergeblich?«
»Nein.« Plötzlich empfand Maury Ärger. »Was soll das ganze Gerede von Treue bedeuten?« fragte sie schroff. »Hat’s irgend etwas mit Win zu tun? Hast du ältere Bindungen?«
»Ältere Bindungen?« Ein kaltes Leuchten wie von fernen Gestirnen stahl sich in seine Augen. Seine Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln. »Das kann man so ausdrücken, ja …«
Für Maury war der Fall klar. »Du Lump!« fauchte sie. Sie handelte ohne Vorsatz und Überlegung, als ihre Rechte übers Gesicht des Mannes in dem Schalensitz klatschte. Einer ihrer Fingernägel hinterließ auf Straightwires Wange einen Riß. Ein Rinnsal von Blut sickerte hervor. Einige Sekunden lang, in denen er Maury gleichgültig musterte, sah Straightwire aus, als habe man ihm ein großes rotes T in die Wange gebrannt. Dann wischte er das Blut desinteressiert mit einer Hand fort. Der Anblick des Bluts und Straightwires achtlose Geringschätzigkeit erschreckten Maury; sie kam zur Vernunft. »Ent … Entschuldigung«, brachte sie heraus. »Es war … nicht meine Absicht.« Sie versuchte, ein besseres Verhältnis zu diesem Mann zu finden, um dadurch auf lange Sicht womöglich hinter seine Geheimnisse kommen zu können. »Ich sehe ja ein, eure Beziehung geht mich nichts an, aber ich finde, du müßtest offener …« Sie stockte. Sie wußte nicht recht, wie sie sich äußern sollte, ohne zu enthüllen, wie tief und weitreichend das Mißtrauen war, das sie ihm entgegenbrachte.
Straightwire betrachtete flüchtig seine blutverschmierte Handfläche. »Ich gehe mich erst mal waschen«, sagte er und stand auf. »Danach sprechen wir uns in aller Ruhe aus.« Er durchquerte die Zentralebene, um die tiefer gelegenen Hygieneräume aufzusuchen.
Maury seufzte gepreßt, als er fort war. Irgendwie hatte sie von dem Mann, der vorgab Luther Straightwire zu sein, während ihrer Expedition zu den Wracks irgend etwas erwartet … Nicht gerade eine Feindseligkeit, kein Attentat …, aber etwas, das es ermöglichte, ihn näher einzuschätzen, zwischen welchen Koordinatenpunkten des Lebens und der Politik im
Weitere Kostenlose Bücher