Die Terranauten 056 - Die Drachenhexen
Abbruch. Was Pethar anbetraf, so würde es noch fünfzig Jahre dauern, bis sich in seinem Gesicht die ersten Altersfältchen zeigen würden. Bei Nayala konnte das frühestens in hundertzwanzig Jahren der Fall sein – aber dann würden die Angehörigen von Pethars Generation längst nicht mehr unter ihnen weilen.
Sie küßte den schlafenden Mann auf die nackte Schulter, musterte mit einem liebevollen Blick sein tiefgebräuntes Gesicht und schob mit einer kaum merklichen Bewegung die dünne Decke beiseite, unter der sie gemeinsam die Nacht verbracht hatten. Ohne daß Pethar etwas merkte – schließlich war er die halbe Nacht hindurch unterwegs gewesen und mußte ziemlich erschöpft sein –, stand sie auf. Der junge Mann atmete tief und fest.
Nayala strich sich das lange nachtschwarze Haar aus dem Gesicht und nahm vor ihrem Arbeitstisch auf einem fellbespannten Hocker Platz. Sie war eine schlanke Frau mit weichen Formen und außerordentlichen Geisteskräften und besaß einen ausgesprochenen Sinn für die Schönheiten der Natur. Das Zimmer, in das sie sich zurückzuziehen pflegte, wenn sie das Gefühl übermannte, mit sich und ihrer Arbeit oder einem Partner allein sein zu müssen, lag im vierten Stockwerk eines aus mächtigen Steinquadern erbauten Turms, der vom Sockel bis zur Spitze fünfzig Meter maß.
Auf den ersten Blick wirkte der Raum wie eine Bibliothek: Zwei der Wände wurden vollkommen von schwerbeladenen Bücherregalen eingenommen, in denen Wälzer standen, die samt und sonders handgeschriebene Unikate waren. An der dritten reihte sich Kartenständer an Kartenständer, und dazwischen stand die breite Liege, auf der Pethar schlief.
Als Nayalas Blick auf die Kartenständer und den vor der vierten Wand – unterhalb des einzigen Fensters – stehenden handgeschnitzten Schreibtisch fiel, stieß sie einen unhörbaren Seufzer aus. Sie war, was die Arbeit anging, weit hinter ihren selbstgesteckten Zielen zurückgeblieben. Die Utensilien, die sie zum Kartenzeichnen benötigte, lagen unordentlich auf der Arbeitsplatte verstreut und riefen in ihr momentan nichts anders als einen Zustand der Trostlosigkeit hervor. Es gab noch soviel zu tun …
Und dennoch … Ihre Konzentrationsfähigkeit hatte in den letzten Tagen stark nachgelassen. Sie kam einfach nicht weiter voran. Ob es daran lag, daß sie sich in den letzten Monaten zuviel zugemutet hatte? Selbst der kreativste Geist konnte nicht unentwegt schöpferisch tätig sein und pausenlos Meisterleistungen hervorbringen. Als Kartographin ihres Klans genoß sie zwar das Privileg, allein arbeiten zu können, aber mehr denn je empfand sie die Ruhe ihres Turmzimmers eher als Fluch denn als Segen. Die Isolation, in der sie die letzten Monate zugebracht hatte, erschien ihr seit geraumer Zeit gar nicht mehr erstrebenswert. Es war nicht gut, allein in einem Raum zu sitzen und sich mit niemandem unterhalten zu können. Das einzige, dem sie lauschen konnte, waren das Wispern des Windes und das sanfte Rascheln der Bäume, die den Turm ihrer Familie umringten. Unerledigte Arbeit stapelte sich in geflochtenen Körbchen, und als Nayalas Blick auf die Rohskizzen und Pergamentrollen fiel, wurde ihr schmerzlich bewußt, wie sehr sie sich danach sehnte, endlich einmal wieder eine längere Pause einzulegen.
Es war ein Glück für sie, daß Pethar in der vergangenen Nacht gekommen war. Der junge Patrouillenflieger hatte wichtige Nachrichten mitgebracht, die weitergeleitet werden mußten. Für sie konnte das eine günstige Gelegenheit sein, dem täglichen Einerlei für eine Weile zu entfliehen und sich ein wenig den Wind um die Nase wehen zu lassen. Schon am vergangenen Abend hatte Nayala den Plan gefaßt, Pethar auf seiner Reise zu begleiten.
Als sie erfrischt aus dem Baderaum zurückkehrte, war Pethar wach. Er hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und musterte ungeniert Nayalas nackten Körper.
»Du bist sehr schön«, sagte er mit seiner etwas heiseren Stimme. »Manchmal wünsche ich mir wirklich, ich wäre deiner würdig.«
Nayala lachte silberhell. »Du bist mir ein zu großer Frauenliebling, als daß ich dich ständig um mich haben wollte«, erwiderte sie geradeheraus und schlüpfte in ein enganliegendes blaues Gewand mit weiten Ärmeln. »Und außerdem: Was würde Sufnor dazu sagen? Und erst die anderen, die mich alle lieben? Du gehörst ja nicht einmal unserem Klan an.«
Pethar schmunzelte. »Dein Klan könnte eine Blutauffrischung sicherlich gebrauchen«, grinste er.
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