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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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bezahlen müssen, dass dieser ihn in seine Kolonnen schmuggelte und nicht den Behörden anzeigte; die Bezahlung hatte darin bestanden, dass er alles, was er ergattert hatte, zu hundert Prozent hatte abliefern müssen, anstatt die Hälfte behalten zu dürfen, und dass von der Gnade des Bettlerkönigs abhing, was dieser ihm zurückgab, um ihm das Überleben zu ermöglichen. Er hatte bei den anderen Gassenkindern dafür bezahlen müssen, dass sie ihn in ihre Mitte aufnahmen; auch hier hatte die Bezahlung aus einer Art Zehnten des von ihm Erbettelten bestanden, der nicht weniger wucherisch war als der des Bettlerkönigs.
    Mit den Jahren hatte sich sowohl die Art der Schuld als auch die der Bezahlung geändert. Der Bettlerkönig gab sich mit der Hälfte aller Einnahmen zufrieden, nachdem Andrej sich als zuverlässiges Mitglied der Bettlergemeinde erwiesen hatte; unter seinen Kameraden ging es jedoch bald um die Hierarchie. Es gab Orte, an denen das Betteln sich lohnte, und andere, an denen man gezwungen war, zusätzlich zu stehlen, um über die Runden zu kommen. Die älteren und stärkeren Jungen besaßen das Platzrecht über erstere, waren aber für Gegenleistungen bereit, einem minderen Mitglied des Rattenpacks den Ort für einen halben Tag zu überlassen. Nachdem sich Andrej zum ersten Mal mit einem der halbwüchsigen Jungen in eine der fast nachtdunklen Brandgassen zwischen den Häusern gezwängt und sich dort in der stinkenden Finsternis auf gänzlich unbekannte und Abscheu verursachende Art hatte berühren lassen; nachdem er den gezischten Anweisungen seines jugendlichen Herrn und Meisters gefolgt war und seinerseits gekniffen und gerieben hatte; nachdem er hart mit dem Gesicht gegen die Wand gedrängt und ihm die Beinlinge bis zu den Knien herabgezogen worden waren; nachdem er etwas Hartes und Heißes zwischen die Beine geschobenbekommen hatte und ihn plötzlich der Schmerz durchzuckt hatte, als das Harte und Heiße versuchte, in ihn einzudringen; nachdem unvermittelt zähe warme Flüssigkeit an ihm heruntergelaufen war und ein schwerer Körper sich stöhnend und keuchend an ihn lehnte – nach all dem und nachdem sein Bezwinger ihn allein gelassen hatte, hatte er sich in Kot und Abfällen auf dem Boden der Brandgasse zusammengerollt und geweint und nicht imstande gefühlt, auch nur eine Minute der so teuer erkauften Zeit zu nutzen. Doch schließlich besiegte der Hunger die Erinnerung an den Ekel, und er trieb sich mit verbissenem Gesicht in dem ihm zugewiesenen Quadranten herum und erzielte die höchste Einnahme seines bisherigen Bettlerlebens.
    Danach versuchte er nur noch einmal, die ihm rangmäßig zustehenden Plätze zu verlassen. Auf der Suche nach einem der älteren Jungen gelangte er zu einer anderen Brandgasse und folgte den Geräuschen, die um eine kleine Biegung in dem engen Gassenschlauch drangen. Unter einem Abtritt, aus dessen unterer Öffnung halbtrockene Kotstalaktiten hingen, erweiterte sich die Brandgasse, und er sah den Jungen, den er gesucht hatte. Seine Beinkleider ringelten sich um seine Knöchel, er kniete auf dem schmierigen Boden und hatte den Mund auf den Schoß eines Mannes gepresst. Der Mann hatte die Finger in das Haar des Jungen verkrallt und stöhnte und keuchte genauso, wie Andrej ein paar Monate zuvor in die Ohren gestöhnt und gekeucht worden war. Dem Jungen auf dem Boden liefen die Tränen aus den Augen, während er versuchte, nicht zu ersticken. Keiner der beiden sah ihn, und Andrej schlich wieder zurück. Er hatte den Mann gekannt – es war einer der Ratsherren gewesen, in dessen Zuständigkeit die Bettler lagen.
    Noch später gab es weitere Zahlungsverpflichtungen; etwa an die füllige Witwe, die vom Rat Geld dafür bekam, ein paar der verwaisten Kinder und Jugendlichen in der kalten Jahreszeit unter ihrem Dach zu beherbergen. Die Zahlung erfolgte entweder an die Witwe selbst oder an verstohlen in der Dämmerung hereinschleichende Männer und bestand wiederum aus jungen Seelen. Das Schema hatte sich durchgezogen bis zu Giovanni Scoto, der nicht Andrejs Körper, dafür aber seine Unterwerfung gefordert hatte, und Kaiser Rudolf, für dessen Protektorat Andrej mit der einzigen Erinnerung bezahlte, die ihm etwas wert schien.
    All das flog in Sekundenschnelle durch seinen Kopf, als er durch den Saal im Obergeschoss von Jarmilas Haus stolperte und sie, die ihm auf halbem Weg entgegenkam, in die Arme schloss. Dann küsste sie ihn so ungestüm, dass ihm der Atem wegblieb und mit ihm

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