Die Teufelsbibel
üblichen beschwingten Schritt, als sei die Welt ein Obstbaum und er brauche ihn nur zu schütteln.«
Ihre Hand drückte noch fester zu. Dann zog sie die seine zu sich heran, drückte sie an ihre Wange und umklammerte sie mit beiden Händen. Andrej spürte ihren Atem auf seiner Haut, die Nässe ihrer Wangen, die Tränen, die auf seinen Handrücken liefen. Er schluckte und wusste nicht, was er hätte sagen sollen, ahnte zugleich, dass es ihr ging wie ihm: es gab nichts, das ein Außenstehender zu diesem Schmerz hätte sagen können.
Als er aufsah, stand der Kaplan neben ihnen.
»Es ist spät«, sagte er. »Du musst gehen, mein Sohn.«
Andrej gestikulierte hilflos und wütend zugleich mit der freien Hand. »Ich kann sie doch jetzt nicht allein lassen«, sagte er.
»Es gibt nichts, was du für sie tun kannst, mein Sohn«, sagte der Kaplan.
»Wir könnten gemeinsam versuchen, herauszufinden, wo das Kloster liegt, in dem ihre Mutter und meine Eltern umkamen!«, stieß Andrej hervor. »Ich war dort – ich weiß nur nicht, wo ich war.«
»Gute Nacht, mein Sohn«, sagte der Kaplan und starrte ihn an.
Andrej spürte, wie Jarmila ihren Griff löste. Er wandte den Kopf und sah sie an. Ihr Gesicht war nass, ihre Schminke zerlaufen und ihre Nase und Wangen rot und geschwollen. Er atmete unwillkürlich ein, als er erkannte, wie schön sie in Wahrheit war, und die Schwingungen von Verlust, Schmerz und Angst, die von ihr ausgingen, trafen ihn über ihre äußere Schönheit hinweg.
»Ich komme zurecht«, sagte sie und ließ seine Hand los. »Der Schmerz ist immer noch –« Sie schluckte und räusperte sich. »Hochwürden kennt das schon, nicht wahr?«
Der Kaplan neigte stumm den Kopf.
»Sie müssen gehen, Andrej«, sagte sie.
»Ich bringe dich hinaus, mein Sohn«, sagte der Kaplan.
Verwirrt stand Andrej auf und folgte dem mageren Kirchenmann. Als er schon fast durch die Tür war, fielen ihm seine Manieren ein, und er drehte sich um. Jarmila saß auf dem Hocker neben dem Feuer, ein Häuflein Elend in einem prachtvollen Kleid wie ein Panzer, und sah ihm nach. Er verbeugte sich. Sie lächelte flüchtig.
»Hier entlang«, sagte der Kaplan.
Der Wagenlenker saß auf dem Bock, als hätte er sich nie von dort wegbewegt. Er gab mit keiner Regung zu verstehen, dass er Andrej wiedererkannte oder was er davon hielt, noch einmal eine Fahrt durch Nacht und Kälte zum Hradschin hinauf unternehmen zu müssen.
»Mein Schützling macht sich große Hoffnungen«, sagte der Kaplan, als Andrej sich zu ihm umdrehte, um sich zu verabschieden.
»Vielleicht kann ich ihr helfen. Ihr und mir selbst«, flüsterte Andrej.
»Geh mit Gott, mein Sohn«, sagte der Kaplan. Zu Andrejs Überraschung verschwand er ohne ein weiteres Wort im Inneren des dunklen Hauses.
Andrej kletterte in die Kutsche. Er war so aufgewühlt und durcheinander, dass er die Kälte in ihrem Inneren nicht empfand. Der Wagen schaukelte, als er sich auf die Lederbank plumpsen ließ. Unwillkürlich spannte er die Muskeln an und erwartete den Ruck, mit dem der Kutscher losfahren würde, doch sie bewegte sich nicht. Ratlos wartete er ein paar Sekunden ab. Hatte der Mann auf dem Bock vergessen, wohin er ihn bringen musste? Er lehnte sich aus dem offenen Fenster.
»Was ist los?«, fragte er halblaut.
Der dunkle Umriss des Wagenlenkers beugte sich zu ihm herab und deutete mit einem Daumen. Andrej folgte dem Fingerzeig.
Im Obergeschoss war ein Fenster geöffnet worden; der rechteckige Umriss flackerte und zitterte rot von seiner einzigen Beleuchtung, dem Feuer im Kamin. Andrej konnte erkennen, dass Jarmila sich aus dem Fenster lehnte. Ihre Blicke trafen sich.
Jarmila legte einen Finger auf die Lippen und winkte mit der anderen Hand.
Andrej öffnete den Verschlag wie im Traum und kletterte hinaus.
Er hatte seinen Fuß kaum auf die Gasse gesetzt, als der Wagen mit Kettengeklirr und Hufgeklapper anfuhr. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ließ der Lenker die Zügel auf die Rücken der Pferde knallen. Andrej starrte ihm nach. Der Wagen schlug die Richtung zum Hradschin ein.
Er sah wieder nach oben. Jarmila blickte reglos zu ihm herab. Er glaubte zu sehen, dass sich eine weitere Locke aus ihrem Schopf gelöst hatte und in der Zugluft tanzte. Er schluckte, doch sein Herz machte einen Sprung und pochte bis in seine Fingerspitzen, als er die Treppe hinaufrannte.
Seit den Tagen seiner Gassenexistenz war Andrej es gewöhnt, für alles zu bezahlen. Er hatte beim Bettlerkönig dafür
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