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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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brauchte eine Weile, bis sie sich beruhigt hatte. Aus dem Augenwinkel nahm Andrej wahr, dass der Kaplan den Kopf hob und zu ihnen herüberspähte, sich dann aber wieder in die Bibel vertiefte, die vor ihm lag.
    »Sind Sie Protestant oder Katholik?«, fragte Jarmila.
    Andrej zuckte mit den Schultern. »Ich habe an Konfessionsfragen kein Interesse.«
    »Sie müssen sich zu einer Seite bekennen.«
    »Vor Ihnen?«
    »Vor Gott.«
    »Glauben Sie wirklich, dass Gott sich für Konfessionen interessiert?«
    »Meine Familie war immer katholisch«, sagte Jarmila leise. »Aber nach dem, was mein Vater mir erzählte, dachte meine Mutter wie Sie. Wir hatten zwar unser Vermögen verloren, aber in der ganzen Gegend nordöstlich von Prag hatte unser Name noch lange danach einen guten Klang. Meine Mutter nutzte diesen Namen, um sich für die Verständigung zwischen Katholiken und Protestanten einzusetzen. Sie gewann viele Damen von Stand für ihre Pläne und reiste mit ihnen alle bekannten Klöster ab, um mit den Äbten und Prioren zu sprechen und um Unterstützung für die Familien zu bitten, die in Not geraten waren – es waren vor allem die Kinder, deren Eltern umgekommen oder ermordet worden waren, die ihr am Herzen lagen. Mein Vater hat gesagt, dass sie immer erklärte, für Kinder gebe es keine Konfession und kein Ketzertum, sondern nur die Reinheit ihrer Seelen, die Gott so geschaffen hat.«
    Andrej spürte, wie eine Saite in ihm anklang. Er bemühte sich, den Schmerz zu unterdrücken, den ihre Worte in ihm geweckt hatten. Für Kinder gab es nur die Reinheit ihrerSeelen und die Allmacht ihrer Liebe zu den Menschen, zu denen sie gehörten. Diese Macht war für niemanden stärker zu spüren als für den, der alle diese Menschen verloren hatte. Er blickte in ihre in Tränen schwimmenden Augen und ahnte, dass auch seine Augen feucht waren. Was das Schicksal betraf, waren sie sich ähnlich: wem immer ihrer beider Liebe gegolten hatte, sie waren alle tot.
    »Meine Mutter kehrte im Herbst nicht mehr zurück«, sagte Jarmila. »Im Herbst des Jahres, in dem das grässliche Massaker an den Hugenotten in Paris stattfand. Sie war mit einer Gruppe von fast einem Dutzend anderer Frauen unterwegs gewesen. Einige der Frauen hatten Kinder dabei, eigene oder Waisen, die sie angenommen hatten. Mein Vater wartete auf sie bis kurz vor Weihnachten, dann wusste er, dass etwas passiert war. Ich denke, ich war noch zu klein – ich war kaum ein Jahr alt –, doch mein Vater sagte, auch ich hätte gewartet. Als die Wege im Frühjahr wieder passierbar waren, suchte mein Vater nach ihr. Er fand nichts – keine Spuren, keine Gerüchte, gar nichts, weder von ihr noch von den anderen Frauen. Als ich alt genug war, um halbwegs zu verstehen, erklärte mein Vater mir, meine Mutter sei an einer Krankheit gestorben. In Wahrheit ist meine Mutter jedoch verschwunden. Sie ist vor zwanzig Jahren verschwunden, und … und …« Jarmila krümmte sich zusammen und schluchzte laut. Andrej versuchte um den Schmerz in seiner Kehle herumzureden, brachte aber kein Wort heraus. Er streckte eine Hand aus, um sie an der Schulter zu berühren, doch er wagte es nicht. Plötzlich ergriff sie blind seine Hand mit Fingern, die nass waren von ihren Tränen, umklammerte sie und drückte sie.
    Der Kaplan sah auf und starrte zu ihnen herüber. Andrej verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. Der Kaplan zeigte keine Regung, doch er kehrte auch nicht mehr zu seiner Lektüre zurück. Durch den ganzen Raum von ihnen getrennt, beobachtete er sie. Er bot kein Wort des Trostes oderwenigstens des Verständnisses an. Andrej spürte, wie tiefe Verachtung für den spröden Mann in ihm aufstieg.
    »Seit zwanzig Jahren –«, schluchzte Jarmila, »und jetzt erfahre ich von Ihnen und Ihrer Geschichte, dieser schrecklichen Geschichte, wie Sie Ihre Eltern verloren haben. Und ich habe – und ich dachte – und ich sagte mir –«
    »Und jetzt denken Sie, meine Geschichte ist die Lösung für die Ihre – dass es Ihre Mutter und Ihre Begleiterinnen waren, deren Sterben ich gesehen habe und denen auch mein Vater und meine Mutter in den Tod gefolgt sind.«
    Sie nickte.
    »Wissen Sie«, sagte er, »wissen Sie, dass auch für mich meine Eltern verschwunden sind seit jenem Tag? Ich weiß, dass sie gestorben sind, aber ich habe es nie gesehen. Meine Mutter war ein Schatten unter Schatten, und meinen Vater habe ich zuletzt gesehen, als er in ein baufälliges Klostergebäude trat mit seinem

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