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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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jeden Akzent aus der Stimme des Alten getilgt.
    »Der Sturm – der Atem des Satans –«
    Die Frau wandte sich ab und beugte sich über den alten Mann.
    »Still, Bruder«, sagte sie. Ihre Hände zuckten, als ob sie ihm über die Wange streichen wollte, doch dann zog sie sie zurück. »Still.«
    Der Alte bäumte sich auf. »Der STURM!«, schrie er plötzlich. »Er kam nach dem Frevel! Das Grab war noch kaum eingesunken, da kam der Hauch des Drachen über uns! O Herr, vergib uns, wir haben gesündigt! Kyrie eleison, kyrie eleison!«
    »O mein Gott«, flüsterte die Frau. »Der Sturm! Man vergisst alles, wenn man hier gefangen ist –«
    Der Sturm war vor fast zwanzig Jahren über Podlaschitz gekommen. Während der alte Mönch abwechselnd Gott um Vergebung anflehte oder schrie: »Der STURM!«, teilte die Frau ihre lückenhafte Erinnerung mit ihnen.
    Cyprian verstand nicht, weshalb der alte Mann sich verantwortlich dafür fühlte, dass die Katastrophe geschehen war, aber dass er es tat, war unbestreitbar. Es war auch unklar, was das Unwetter mit dem Grab zu tun hatte, von dem der Mönch stöhnte; doch was der Alte am Ende des Berichts stammelte, ließ Cyprian einen kalten Schauer über den Rücken rieseln, der jenen Eishauch, den er vorher in diesen Gewölben verspürt hatte, zu einem Nichts reduzierte.
    Der Sturm.
    Ein Gewitter, das sich den ganzen Tag über angekündigt hatte; drückende Hitze schon am Morgen, Feldarbeiten, die nur schleppend erledigt wurden; Warentrecks, die über die Straße von Chrudim nach Westen krochen; gereizte Tiere, gereizte Menschen – die Fliegen waren so bösartig gewesen, dass Kühe stampfend über die Weide liefen und Pferde mit geblecktem Gebiss ausschlugen. Dann hatte sich Dunkelheit über den flachen Kessel gelegt, in dessen Zentrum die Ruinen von Podlaschitz standen. Die Wolken hingen bauchig am Himmel, indigofarben, schienen herabfallen zu wollen.
    »Wie damals«, sagte Andrej.
    »Herr vergib uns, Herr vergib uns«, flüsterte der Mönch.
    Zuerst war es nur ein heftiger Wind; der Wind schwoll an zu einem Orkan. In den Wolken flackerten Blitze, ohne jemals die Erde zu erreichen. Der Donner rollte so laut, dass Kinder sich auf den Boden fallen ließen und sich weinend die Ohren zuhielten; Erwachsene kniffen sich die Nasen zu und pusteten, um den Druck loszuwerden, doch der Druck legte sich auf sie, sobald sie wieder einatmeten. Es regnete nicht. Der Herr hatte das Strafgericht heraufbeschworen, wie Er es damals in Sodom und Gomorrha getan hatte, und Sein Zorn kam mit heulenden Winden, nicht mit Wasser. In Chrast brach ein mächtiger Ast aus der alten Gerichtslinde; in Rositz zerbarst der größte Schuppen des Orts, als eine plötzliche Bö hineinfuhr; in Horka wirbelten die Grasdächer fast aller Häuser davon, und in Chacholitz löste ein wütender Staubsturm eine Panik in einer Schweineherde aus, die die Tiere quiekend und blind vor Furcht zwischen den Hütten umherrasen ließ, bis sie sich die Schädel an Hauswänden oder Bäumen einrannten. Podlaschitz stand – die Zwillingstürme zitterten, von den eingestürzten Gebäudeteilen lösten sich kleinere Teile und rollten über den Klosterhof, aber Podlaschitz stand.
    »Bis der Schwanz des Drachen die Erde berührte«, sagte die Frau, aus deren klaffender Wunde Blut und Eiter tropften.
    Kurz vor Podlaschitz streckte das Unwetter, das von Westen nach Osten zog wie die Wilde Jagd, eine lange Hand aus, einen Tentakel, einen Riesen aus Staub und Wind und Dreck und Trümmerteilen, der tanzte und stampfte und zertrat und emporschleuderte und über die Klosterruinen herfiel und brüllte wie eine Million verhungernder Rinder und kreischte wie alle verdammten Seelen im Fegefeuer –
    »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa, dómine Deus, miserére nobis, miserére nobis!«
    Cyprian versuchte, den alten Mann auf dem Lager festzuhalten, aber in dem halb mumifizierten Körper steckten dieKräfte des Irrsinns. Der Mönch taumelte auf die Beine und packte Cyprian am Kragen.
    »Es war ein Befehl!«, brüllte er. »Regula Sancti Benedicti, Caput V: De oboedientia! OBOEDIENTIA! Das heißt GEHORSAM!!« Er sank gegen Cyprians Brust und schluchzte trocken. »Warum hast du das verlangt, Vater, warum hast du das verlangt?«
    Der Tentakel griff in die Öffnungen halb abgedeckter Dächer und riss die Dachsparren heraus; er warf sich gegen die bröckelnde Ruine des Torbaus und ließ sie in sich zusammenfallen, als bestünde sie aus Geröll; er tobte

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