Die Teufelsbibel
Herz.
Warum bist du nicht mit mir geflohen, Cyprian?, dachte sie. An jenem Tag auf dem Kärntnertor hätten wir uns einfach bei der Hand nehmen und die Stadt verlassen sollen, anstatt auf die Vernunft zu hören und die Flucht auf den nächsten Tag zu verschieben. Und wenn wir unterwegs verhungert wären, wären wir gemeinsam verhungert. Wenn wir nie angekommen wären, hätten wir es wenigstens gemeinsam versucht. Wir hatten eine Chance, aber wir haben sie nicht genutzt.
Was konnte sie tun?
»Ja«, sagte sie. Als sie die Verwirrung spürte, drehte sie sich um. Sebastian und ihre Mutter wechselten einen bedeutungsvollen Blick.
»Was hast du gesagt, Sebastian?«, zwang sie sich zu fragen.
»Nichts, meine Liebe.«
Plötzlich war ihr klar, was sie tun konnte. Sie starrte in die Gesichter ihres Bräutigams und ihrer Mutter und fragte sich, wie um alles in der Welt sie die Lösung darin hatte lesen können. Aber wahrscheinlich war sie gar nicht dort zu finden gewesen, sondern in ihr selbst und war die ganze Zeit zum Greifen nah gewesen, und durch irgendeine kleine Verschiebung in ihrem Inneren konnte sie sie jetzt sehen. Oder lag es daran, dass sie sich plötzlich erinnerte, wie ihr Vater und die beidenWilfings sich über neue Märkte unterhalten hatten, an einem der vergangenen Tage?
»Entschuldigung, ich war in Gedanken«, sagte sie und lächelte so süß, dass ihr Bräutigam unwillkürlich mitlächelte. Sie wandte sich zum Fenster. »Stimmt, es ist wirklich schön draußen. Man hat den Eindruck, die Welt steht einem wieder offen, und man möchte am liebsten hinaus- und in sie hineinrennen und nicht mehr aufhören, bis man an ihrem Ende ankommt.«
Sebastian Wilfing war die Personifizierung von Überraschung, Verwirrung und hoffnungsvollem Liebesglück. Seine Stimme machte sich selbständig.
»Ja«, quiekte er. Oiiink!
13
Der Mann brannte . Judas Ischariot musste so gebrannt haben, als er mit seinem Säckchen voller Silbermünzen zu den Sadduzäern im Tempel rannte, voller verzweifelter Hoffnung, rückgängig machen zu können, was er getan hatte. Judas Ischariot war gescheitert. Melchior Khlesl fragte sich, ob er sich wünschen sollte, dass der Mann vor ihm ebenfalls scheitern würde.
Er sprach spanisch gefärbtes Latein, das sich vor allem durch harte Konsonanten auszeichnete. Seine Brillengläser waren so verschmiert, dass seine verzerrt vergrößerten Augen dahinter wie lauter Katarakte aussahen. Der Bischof ahnte, dass der Mann dennoch hindurchblicken konnte, ohne die Schmiere überhaupt wahrzunehmen; ein Blick wie seiner drang durch Wände.
»Pater Hernando de Guevara«, sagte Bischof Melchior vorsichtig in seinem eigenen geschliffenen Latein und legte die Hände flach auf den Tisch. »Ich muss gestehen, ich habe kein Wort verstanden von dem, was du gesagt hast.« Die Lüge warseinem Gesicht nicht anzusehen. Er hatte sehr wohl verstanden. Er hatte vor allem eines verstanden: der junge Mann auf dem Besucherstuhl hatte zwei Päpste auf dem Gewissen.
Die vergrößerten Augen hinter den Brillengläsern zuckten schmerzvoll.
»Ich kann meine Schuld nicht wiedergutmachen«, stöhnte Pater Hernando. »Aber ich kann verhindern, dass sie noch größer wird. Ich brauche deine Hilfe, Ehrwürden.«
»Warum ausgerechnet meine?«
»Du bist der Mann, den ich gesehen habe, als der Heilige Vater ins Kollegium einzog. Ihr habt euch zugenickt.«
»Papst Innozenz? Kardinal Facchinetti?«
»Und du hast ihm beigestanden, als er –«
»Gestorben ist«, sagte Bischof Melchior, ohne dass jemand seiner Stimme angemerkt hätte, dass er dabei mit den Zähnen knirschte.
»Ich habe Erkundigungen eingezogen und deinen Namen dabei herausbekommen, Ehrwürden.«
»Und jetzt bist du hier. Von Rom nach Wien in ein paar Tagen. Eine mörderische Strapaze, Pater.« Vor Beginn des Frühlings, über Straßen, die sich lediglich dadurch von den umgebenden Äckern unterschieden, dass man auf ihnen nicht weiter als bis zu den Knöcheln im Schlamm versank. Aber die Dominikaner hatten ein weit verzweigtes Netz an Klöstern und Klausen, und die Angehörigen des Ordens, die sich in der Welt bewegen durften, waren zumeist von der Machart, dass sie die unmenschlichsten Strapazen, ohne mit der Wimper zu zucken, noch vor der Morgenmahlzeit ertrugen und danach, mit einem einzigen Becher heißen Wassers als Stärkung, erst wirklich zu Hochform aufliefen.
»Ich muss nur noch so lange am Leben bleiben, bis ich meine Mission erfüllt
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