Die Teufelsbibel
entstanden, in denen deine Mutter und die Frauen damals untergegangen sind. Sie sollte dich dazu bringen, dass du dich erinnerst und zu dem Platz zurückkehrst, an dem das Massaker geschehen ist; zu dem Platz, den dein Vater gesucht hat, weil er herausbekommen hat, dass dort ein Buch verborgen liegt, das die Kirche entweder untergehen oder triumphieren lässt. Sie durfte alles tun, um dich dazu zu bringen, ihr zu vertrauen und sie dorthin zu führen. Du hast wie erhofft gearbeitet, Andrej, und dass das Buch nicht mehr dort war, ist nicht deine Schuld, und alles, was geschehen wird, ist, dass die Suche weitergeht, nur du spielst keine Rolle mehr darin. Du hast vielleicht eine Rolle für Jarmila gespielt, aber Jarmila hat es nie gegeben.«
»Das ist alles?«, brachte Andrej hervor. Er war sicher, gestorben zu sein. Er fühlte seine Hände und Füße nicht mehr.
»Ja!«, sagte sie, noch immer über den Tisch gebeugt. »Das ist alles! Geh!«
»Warum weinst du, wenn das alles ist, was du mir sagen willst?«
»Ich weine nicht!«, schrie sie fast. »Und wenn doch, dann nicht um dich.«
»Nein«, sagte er, »nicht um mich, sondern um dich.«
Sie machte den Mund auf und klappte ihn wieder zu. Ihre Augen funkelten.
»Geh!«, flüsterte sie. »Geh, bevor … bevor ich dich aus dem Haus werfen lasse.«
Andrej stellte fest, dass er aufstehen konnte. Er spürte den Boden nicht unter seinen Füßen. Jarka ließ sich zurücksinken und sah zu ihm auf. »Viel Glück«, sagte sie.
»Du lügst schon wieder«, sagte er. »Das ist nicht alles.«
»Das ist alles, was ich für dich habe.«
Er nickte. Er nickte ein zweites Mal. »Gut«, sagte er tonlos. »Gut. Das ist alles. Gut.«
Andrej wankte zur Tür. Als er sich umdrehte, begegnete er ihrem Blick. Sie sah ihm unverwandt nach. Als er zögerte, machte sie eine aufmunternde Kopfbewegung, wie um ihm zu bedeuten: Da ist die Tür! Er ging hinaus auf Beinen, die ihm nicht gehörten, in ein Treppenhaus, das er noch nie gesehen zu haben meinte. Die Luft brauste in seinen Ohren, und doch war es ihm, als herrsche um ihn herum Totenstille. Sein Herz musste schlagen, sonst wäre er tot zu Boden gesunken, aber er spürte es nicht. Er sah einer Hand zu, die einem Arm entwuchs, der zu seinem Körper zu gehören schien; die Hand legte sich auf das Geländer der Treppe und strich daran entlang, während er Schritt um Schritt nach unten stieg. Die Hand hatte kein Gefühl, und doch schnitt jede Unebenheit, jede Kerbe im hölzernen Handlauf in seine Haut. Am Treppenabsatz blieb er stehen und drehte sich um. Die Treppenstufen, die er gerade heruntergekommen war, dehnten sich vor seinen Augen, bis es schien, als würde er einen endlosen dunklen Turm hinaufblicken, den zu erklimmen ihm für immer verwehrt war. Er hörte das Ächzen, das in der Stille widerhallte und das direkt aus seiner Seele kam. Er wollte zu Boden sinken und konnte es nicht; er wollte sich übergeben und konnte es nicht; er wollte sterben und konnte es nicht. Er konnte nur weinen; die endlose Treppe in die Dunkelheit verschwamm vor seinen Augen, und er presste die Fäuste an die Schläfen und weinte, wie er damals um seine Eltern geweint hatte.
19
Cyprian legte die Feder beiseite und wartete, bis die Tinte auf dem kleinen Papierröllchen trocknete. Er hätte Sand darüberschütten können, aber er war dankbar für die Atempause, die ihm das Warten gewährte. Seine Augen schmerzten. Er betrachtete seine Fingerkuppen, die schwarz vor Tinte waren. Die winzigen Röllchen mit halbwegs lesbaren Schriftzeichen zu füllen kam einer Aufgabe gleich, der Herkules nicht gewachsen gewesen wäre.
Er hatte die Teufelsbibel nicht gefunden. Je nachdem, wie man es betrachtete, hatte er entweder versagt, oder die Suche war schlicht und einfach vorbei. Er dachte an den Haufen verschimmelnden Pergaments in der Ecke der Kirchenruine. Wie auch immer, er hatte seine Schuldigkeit getan. Bischof Melchior hatte diesen einen Dienst von ihm erbeten, und er hatte ihm versprochen, ihn zu erfüllen. Was seinen Onkel anging, war er ein freier Mann.
Er konnte zum Haus der Wiegants gehen, diesmal nicht in Priesterverkleidung, sondern stolz und aufrecht als er selbst, Cyprian Khlesl, zweiter Sohn des Bäckermeisters aus der Kärntner Straße, ehemaliger Agent des Bischofs von Wiener Neustadt, Habenichts und ohne Zukunft, und jeden beiseitefegen, der sich ihm auf dem Weg zu Agnes entgegenstellte. Erwar überzeugt, dass er es mit einer Armee aufgenommen hätte,
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