Die Teufelsbibel
auf irgendwelche Reize und sprach so gut wie nicht; die hauptsächlichen Geräusche, die aus seinem Mund kamen, waren das Rülpsen nach der Suppe und das Schnarchen in den Nachtstunden. Irgendwann hatte einer es lustig gefunden, sich leise von hinten an den Jungen heranzuschleichen, seine Lippenganz nahe an dessen Ohr zu bringen und lauthals »Buh!« zu brüllen. Der Junge schoss vor Schreck in die Höhe und sprang gegen die Klosterpforte, die zwar beachtlich erzitterte, ansonsten aber standhielt, rutschte daran herab und begann zu weinen. Die anderen nahmen um ihn herum Aufstellung und lachten und schrien »Buh! Buh! Buh!«, bis Pavel unter sie trat und ihnen erklärte, was er davon hielt, einen Menschen zu necken, der die Arme um den Kopf geschlungen hatte und versuchte, sich in einer Schlammpfütze zu verstecken und Rotz und Wasser heulte. Pavel machte zu seiner Erklärung eine Miene, die nicht zu Widerspruch einlud. Er war kleiner als die anderen, aber ein Blick in sein Gesicht zeigte jedem halbwegs für stumme Signale Empfänglichen, dass sein Besitzer durch seine bisherige Lebensführung gut darin geübt war, seine Ansichten durchzusetzen. Der Junge war in Ruhe gelassen worden, wenngleich die anderen ab sofort einen Spitznamen für ihn hatten: Buh. In Ermangelung der Information, wie der Junge tatsächlich hieß, nannte auch Pavel ihn schon bald in Gedanken Buh.
Am fünften Tag, als er und Buh nur noch zu zweit waren, bekam Buh einen Hustenanfall, der länger dauerte, als Pavel die Luft anhalten konnte. Als er endlich verklang, lag der riesenhafte Junge auf dem Boden, rang mit bleichem Gesicht und blauen Lippen nach Atem und krümmte sich schaudernd vor Kälte zusammen – und Pavel verlor die Geduld. Er hämmerte gegen das Tor. Nach einigen Augenblicken ging die Luke auf und zeigte das Gesicht des alten Torhüters. Der greise Mönch musterte Pavel mit zusammengekniffenen Augen.
»Prüf deinen Geist, ob er aus …«, begann der Mönch und unterbrach sich dann. »Dich kenne ich ja«, murmelte er. »Schön, dass du immer noch hier bist. Dein Herz ist stark in der Demut.«
»Ich begehre Einlass«, sagte Pavel.
»Na, na«, begann der Torhüter.
»Ich begehre Einlass, nicht in meinem Namen, aber im Namen der Barmherzigkeit. Ich begehre Einlass, aber nicht für mich, sondern für meinen Freund hier, der sich den Tod holen wird, wenn die Gemeinschaft von Braunau nicht einen Weg findet, unseren Geist mit einem Dach über dem Kopf zu prüfen!«
Das Gesicht des alten Torhüters erstarrte. Das war’s, dachte Pavel, da geht meine Hoffnung dahin in zwei unbedachten, ärgerlichen, zum falschen Zeitpunkt gesagten Sätzen. Dennoch fühlte er sich hitzig, aufgebracht und gut. Der Torhüter schlug die Luke zu.
Pavel drehte sich um. Buh hatte sich aufgerichtet und gegen den Torbogen gelehnt. Um seine Augen waren Schatten. Er sah resigniert zu Boden.
Die Klosterpforte schwang auf und zwei Mönche traten heraus. Sie hatten Decken in den Händen. Der Torhüter folgte ihnen.
»Unser Dienst ist der Dienst am Herrn und seinen Geschöpfen«, sagte der Torhüter. »Wir verrichten ihn in Demut. Zur Demut gehört vor allem auch die Demut vor dem Wert des Lebens, und daher müssen wir sprechen, wenn wir es in Gefahr finden, und keine Mühe scheuen, um es zu schützen. Dein Herz ist stark, mein Junge. Ihr dürft eintreten.«
Die Gestalt bewegte sich voller Hast zwischen den Hütten des Weilers. Wenn sie noch schneller gewesen wäre, wäre sie gerannt. Pavel sah ihr mit leerem Blick zu, wie sie dem Weg aus der Ansiedlung heraus folgte und auf den Waldrand zusteuerte, den Oberkörper vorgebeugt, als kämpfe sie gegen Sturm an, die Beine in trippelnder Bewegung. Sie hastete die leichte Steigung hinauf. Am Waldrand gabelte sich der Pfad; der breitere Teil führte um den Wald herum zum Rest der menschlichen Zivilisation. Eine ausgetretene Spur brachte einen zum Ziegenstall. Die Gestalt blieb auf der Weggabelung stehen undverschnaufte. Der helle Fleck eines Gesichts wandte sich dem Stall zu. Pavel blinzelte und erkannte, worum es ging.
»Sie kommt«, zischte er über die Schulter zu Buh. Buh verkroch sich in sich selbst. Pavel fing seinen besorgten Blick auf und bemühte sich, ihn zuversichtlich anzulächeln. Er spähte wieder zur oberen Hälfte der Tür hinaus und schmiegte sich gleichzeitig an den Türpfosten, um nicht gesehen zu werden.
Die Gestalt hatte bereits ein gutes Stück von der Weggabelung zurückgelegt. Allerdings
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