Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
Vom Netzwerk:
bisheriges Leben abgewaschen. In der Mühle von Liebenau hatte er angegeben, aus Schömberg zu stammen, als man ihm einen Schluck Wasser gegeben und nach seiner Herkunft gefragt hatte. In Buchwaldsdorf hatte er erklärt, der neue Lehrling des Müllers von Liebenau zu sein; in Lochau war er angeblich aus Buchwaldsdorf und in Weckersdorf angeblich aus Lochau gewesen, und was er von den Leuten in der jeweils vorherigen Ortschaft erfahren hatte, während er Wasser aus dem Dorfbrunnen schöpfte, hatte genügt, um ihn in der nachfolgenden Ortschaft zu legitimieren.
    Schließlich hatte er vor dem schroffen Graben gestanden, der das Kloster und den Hauptteil der Tuchmacherstadt vom sanft auf sie zulaufenden Umland trennte, hatte die hölzerne Brücke darüber betreten und sich am Ziel seiner langen Reise gewähnt, die selbstverständlich auch in Schönberg nichtihren Anfang genommen hatte. Es gibt Schicksale, bei denen auch noch so viele Schweißtropfen nicht reichen, um das bisherige Leben eines Vierzehnjährigen abzuwaschen.
    Dies war das Ziel von Pavels Reise, in physischer wie in psychischer Hinsicht: das Kloster des heiligen Wenzel, gebaut auf dem Stadtfelsen Braunaus und in gewisser Weise längst selbst der Stadtfelsen geworden mit seinen festungsartigen Mauern, Türmen und Bollwerken.
    Zuletzt hatte Pavel an die Klosterpforte geklopft und dem faltigen alten Gesicht, das sich in der kleinen Luke gezeigt hatte, erklärt, er wolle die Welt hinter sich lassen und sein Leben dem Dienst an Jesus Christus und der Erlangung von Wissen widmen – was der Wahrheit entsprach –, und er sei zwanzig Jahre alt und seine Eltern mit seiner Wahl einverstanden – was beides gelogen war –, sein Elternhaus sei weit entfernt und seine Familie zu arm, um ihn mit einer Spende für das Kloster auszustatten – was wiederum stimmte –, und so erbitte er voller Demut, der Welt entsagen und ins Kloster eintreten und die niedrigsten Dienste verrichten zu dürfen, um seine Lauterkeit zu beweisen; das alles gefolgt von dem Lächeln, dessen Wirkung Pavel erstmals als Zwölfjähriger erfahren hatte, als er bei einem Diebstahl im Haus des Gutsherrn ertappt und anstatt bestraft zu werden von der massigen Köchin in eine dunkle Ecke der Küche gezogen worden war, wo er sich den Ablass für seine Sünde zwischen zwei prallen Schenkeln erarbeitete und ganz nebenbei seine Unschuld verlor; er hatte als Zwölfjähriger schon wie sechzehn ausgesehen, genau wie er nun, mit vierzehn, ohne weiteres als Zwanzigjähriger durchging – kleiner und schmaler als der Durchschnitt, aber mit einem Gesicht, das seiner Zeit vorausgereift war.
    Das Lächeln strahlte in das Gesicht des Klosterbruders, der durch die Luke schielte, prallte daran ab und starb, noch bevor es wusste, wie ihm geschehen war.
    »Prüf deinen Geist, ob er aus Gott ist«, hatte der Klosterbruder gebrummt und die Luke geschlossen. Geschlossen war auch die Pforte geblieben.
    In den fünf Tagen, die darauf folgten, hatten sich weitere Leidensgenossen um Pavel geschart. Im Herbst fanden sich regelmäßig mehr Bittsteller als sonst vor den Klosterpforten ein und baten um Aufnahme – der Winter stand bevor, die Gutsherren brauchten weniger Hilfsarbeiter und ihre Pächter wurden geiziger beim Teilen ihrer Vorräte mit Herumtreibern und Entwurzelten. Seit die Christenheit gespalten war und sich ganz handfest mit Armeen bekämpfte im Namen dessen, der gestorben war, um der Welt den Frieden zu bringen, waren die Aufnahmezahlen ohnehin höher als sonst; die saisonale Herbstspitze war dennoch spürbar. Die jungen Männer hatten sich wie Pavel in den dürftigen Schutz gekauert, den der Torbogen über der Klosterpforte bot, hatten kleine Dienste für die weltlichen und geistlichen Besucher des Klosters verrichtet, hatten die dünne Suppe geschlürft, die der Bruder Pförtner zweimal am Tag für sie herausbringen ließ, hatten seinen kurzen Ermahnungen gelauscht und ganz allgemein ihren Geist geprüft, während die Pfützen, in denen sie standen und saßen, immer tiefer wurden. Am Ende hatten sie alle bis auf Pavel und einen weiteren Jungen gefunden, dass ihr Geist nicht aus Gott stammte, und aufgegeben.
    Der andere Junge hatte sich von Anfang an von allen ferngehalten. Mit der Zeit hatten sie festgestellt, dass das Ausmaß seiner Intelligenz den Vergleich mit seiner Körpergröße nicht aushielt. Vom Körperbau her war er ein Bär, der selbst unter Bären groß gewirkt hätte; doch er reagierte kaum

Weitere Kostenlose Bücher