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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Haus gerichtet und nicht auf den Nachbareingang und dabei nicht bemerkt, dass sie herausgetragen worden war. Sie lag allein abseits, noch immer in die Decke gehüllt. Dass niemand bei ihr war und sich um sie kümmerte, war Beweis genug dafür, dass Cyprians Hoffnung vergebens war. Er stand vor ihrem halb verhüllten Körper und starrte auf sie hinab, ihr Anblick eine verschwommene Form, deren Konturen langsam schärfer wurden. Er hätte in diesem Augenblick alles dafür gegeben, erblindet zu sein. Ein neuer Hustenanfall krümmte ihn. Es war nicht einmal Schmerz, der in seinem Inneren wütete; es war ein Nichts, ein Loch, eine Stelle, die einmal jemand ausgefüllt hatte, der immer seine andere Hälfte gewesen war; die Stelle war so groß, dass er sich fühlte wie jemand, dessen Mitte herausgerissen worden war. Die Welt warohne Bedeutung, es war ohne Bedeutung, dass Prag vor einer Feuersbrunst gerettet worden war, wie es ohne Bedeutung gewesen wäre, wäre die ganze Stadt verbrannt. Seine Gedanken waren unzusammenhängende Fetzen, die durch seinen Schädel gaukelten wie die Ascheflocken durch die Luft, und handelten davon, dass der von Bischof Melchior angekündigte Pater Hernando nun das Feuer nicht mehr zu bemühen brauchte, und gleichzeitig davon, wie er mit einem Krug warmen Wassers Agnes’ angefrorene Zunge befreit hatte, damals, vor ungefähr zehntausend Jahren. Der größere Teil seines Verstands bemühte sich, ihn aufrecht zu halten und zu verhindern, dass er als schluchzendes Wrack in sich zusammensank, und verlor mit jeder Sekunde an Kraft.
    Auch andere besaßen Instinkte; er fühlte plötzlich, dass Menschen an seiner Seite standen. Er sah nicht auf. Eine Hand krallte sich in seinen Oberarm.
    »Nein«, flüsterte eine kranke Stimme, die er als die von Niklas Wiegant erkannte. »Nein, Cyprian, sag, dass das nicht wahr ist.« Niklas begann zu weinen. »Kindchen«, schluchzte er, »Kindchen, Kindchen, o Gott, mein Kind!«
    Cyprians Augen brannten. Niklas sank auf die Knie. Er vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte. Cyprian sah, dass jemand sich an seine Seite kniete und ihn in den Arm nahm – Sebastian Wilfing senior. Sebastian junior, Bräutigam in spe und nun Fast-Witwer, war nirgends zu sehen. Eine stocksteife Gestalt etwas abseits war Theresia Wiegant, wie die anderen ein staubbedecktes, unter dem Staub rußgeschwärztes Gespenst. Ihre Augen funkelten in einem Gesicht, das fast unkenntlich war. Hastige Schritte näherten sich, und jemand packte seine Schulter.
    »Wir dachten, du seiest noch in dem Gebäude«, keuchte Andrej. »Dann hab ich euch hier drüben stehen sehen und das Buddeln eingestellt und – o mein Gott, das ist doch nicht …?«
    Andrej trug den kleinen Wenzel an sich gepresst. Das Kind jammerte leise. Andrejs Blicke flogen von dem reglosen Körper auf dem Boden zu Cyprian und zurück.
    »Agnes?«, sagte Andrej. »O Gott, oh, Cyprian –«
    Cyprian streckte eine fühllose Hand aus, die an einem fühllosen Arm hing. Er fuhr über den verhüllten Schädel des Kindes, gab Andrejs entsetzten Blick zurück und wandte sich ab. Der Platz schwankte um ihn her. Als er zu schwanken aufhörte, stand Cyprian bereits neben Theresia Wiegant. Sie sah ihn nicht an. Er legte ihr den Arm um die Hüfte und führte sie zu dem kleinen Tableau, das aus einer Toten, zwei schluchzenden alten Männern, einem halb verhungerten Kind und einem vollkommen durchnässten und verdreckten jungen Mann bestand, dem ebenfalls die Tränen aus den Augen liefen. Theresia wehrte sich nicht, doch sie blieb weiterhin steif wie ein Stück Holz vor dem verhüllten Leichnam ihrer Tochter stehen. Cyprian kniete ächzend nieder und griff nach einem Deckenzipfel, und das letzte Mal, dass er eine ähnlich große Angst empfunden hatten, war der Moment gewesen, in dem sein Vater halb betäubt in der Mehlstaubexplosion lag und der weiße Staub auf die Lippe rieselte, die Cyprians Schlag hatte aufplatzen lassen. Selbst das Szenario war ähnlich – eine erstickende weiße Schicht, die sich auf alles legte.
    Ich muss dich sehen, damit ich Abschied nehmen kann, dachte er.
    Ich kann es nicht ertragen, dein totes Gesicht zu sehen, weil ich dann keine Zweifel mehr haben kann, dachte er zugleich.
    Ich liebe dich, Agnes, dachte er zuletzt.
    Er hatte nie in seinem Leben in die Vergangenheit zurückgeblickt. Jetzt blickte er zurück und wünschte sich, noch einmal der Junge zu sein, der mit dem warmen Wasser zur Rettung kam, während

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