Die Teufelsbibel
Strudel, und seine wunde Seele fühlte eher den Schmerz, den Andrej empfand, als die eigene Beruhigung.
»Jetzt sind sie beisammen«, hatte Andrej geschluchzt, bevor er völlig zusammengebrochen war. »Jetzt hat sie endlich Frieden.«
Der plötzliche Regen wusch den Ruß aus Yolantas Gesicht und offenbarte die aufgeschrammte, blau geschlagene Wange und die aufgeplatzte Lippe, noch während Cyprian fassungslos auf sie hinuntergestarrt hatte. Jemand hatte sie geschlagen; jemand hatte sie überfallen. Sie war in Agnes’ Zimmer gewesen, und jemand hatte sie dort angegriffen. Cyprians Geist war noch immer nicht so weit, dass er die nötigen Verbindungen hätte herstellen können, aber seine Gedanken begannen bereits, Muster zu weben.
»Cyprian?«
Niklas Wiegant stand zu Füßen des Trümmerhaufens. Cyprian gab seinen Blick schweigend zurück. Niklas kletterte zu ihm nach oben.
»Was ist hier geschehen, Cyprian? Wer ist dieser Mann mit dem Kind? Wer ist die Tote?« In Niklas’ Augen traten neue Tränen. »Ich dachte, es sei Agnes. Du dachtest das auch – du hast sie – Du bist im Haus noch mal zurück und –«
»Sie ist für Agnes gestorben«, hörte Cyprian sich sagen. Es war für Niklas wie ein Schlag.
»Sie war in Agnes’ Zimmer. Sie hat mindestens einen schweren Schlag an den Kopf bekommen. Wer immer sie geschlagen hat, hat sie liegen gelassen und das Haus angezündet. Vielleicht haben er oder sie Agnes mitgenommen und dann das Feuer gelegt.« Der letzte herumirrende Gedanke fand seinen Platz in dem Muster in Cyprians Gehirn. »Ihr solltet alle sterben, Niklas. Bei Agnes wollte man sich nur absolut sicher sein. Wofür, Niklas?«
Niklas Wiegant starrte Cyprian an. Seine Augen zuckten.
»Welche Sünde hast du begangen, Niklas Wiegant, die irgendjemand jetzt Agnes büßen lassen will?«
Entsetzt erkannte Cyprian, dass die Wut wieder in ihm hochstieg. Er wusste nicht einmal, weswegen er so wütend wurde, aber der Anblick von Niklas Wiegant, der ein Geheimnis hütete, das sich jetzt an Agnes rächte, ließ den roten Nebel vor seine Augen steigen.
»Sagt dir der Name Teufelsbibel etwas, Niklas?«
Niklas schüttelte den Kopf. Seine Augen hingen an denen Cyprians. Cyprian wurde klar, dass Agnes’ Vater sich danach sehnte, das Geheimnis endlich loszuwerden, und dass es ihn all die Jahre halb erstickt hatte. Es brauchte nur einen Anstoß. Cyprians Gedanken überschlugen sich. Er sah an Niklas vorbei, wie Andrej das Kind und die Tote an sich zog, als wolle er sie wenigstens ein einziges Mal beide im Arm halten.
Und dann hatte er die Lösung.
»Schwarze Mönche«, sagte er und sah mit so etwas wie Genugtuung, dass Niklas noch bleicher wurde, »und ein Massaker an zehn französischen Frauen und Kindern.«
Er sah aus dem Augenwinkel, wie Andrej tränenblind zu ihm herübersah, als hätte er ihn gehört. Er nickte ihm zu.
»Erzähl«, sagte er zu Niklas, ohne ihn anzublicken.
6
Der letzte Handelstreck des Jahres 1572, ein Jahr, mit dem die Firma Wiegant & Wilfing endgültig aus den roten Zahlen gekommen war; ein gutes Jahr, trotz der grässlichen Nachrichten aus Frankreich – oder gerade deswegen, denn Massaker in benachbarten, nicht unbedingt befreundeten Königreichen sorgten in der Regel für gute Geschäfte zu Hause.
Ein gutes Jahr, obwohl sich noch immer kein Kandidat für den verwaisten Bischofsstuhl von Wien gefunden hatte, mittlerweile schon im fünften Jahr, und somit auch die katholische Bevölkerung schon im fünften Jahr nicht den Mut fand, auch nur eine einzige Prozession zu veranstalten, um den verketzerten Lutheranern zu zeigen, was wahre Anbetung Gottes war.
Ein gutes Jahr auch trotz der Sommerüberschwemmungen in Wien, die die Städte Krems und Stein und rund um Wien das Marchfeld und das Tullner Feld hatten absaufen lassen und die Ernte so nachhaltig zerstörten, dass Kaiser Maximilian um Steuernachlässe gebeten worden war und jedem Kaufmann, der irgendwelche Lebensmittel in seinen Lagerräumen aufbewahrte, diese mit Gold aufgewogen wurden.
Ein gutes Jahr … und Niklas Wiegant verspürte dumpfe Angst, nach Hause zurückzukehren. Nach dieser letzten Handelsfahrt würde es in diesem Jahr nur noch eine Reise geben, die nach Wien, zusammen mit seinem Freund und Partner Sebastian und denjenigen Buchhaltern, die das Weihnachtsfest in Wien feiern wollten statt in Prag. Und dort würde das übliche Elend auf ihn warten.
Es war schwer, im Frühjahr eine Frau zu verlassen, die in langsamer
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