Die Teufelsbibel
zu der Stelle hinüber, an der Agnes auf ihn gelauert hatte. Er bemühte sich, sie nicht anzusehen, weil er seiner selbst nicht sicher war, welche Gefühle sich auf seinem Gesicht spiegeln würden. Agnes sah im Schatten der Kapuze zu Boden. Er dachte, er sähe ihre Schultern beben, aber er wagte nicht, länger hinzusehen.
»Verstehst du Latein?«, fragte der Mönch.
Cyprian machte ein ratloses Gesicht und sagte: »Hä?«
Der Dominikaner schnaubte und warf Agnes einen Blick zu. »Von dir weiß ich es ja. Kannst du diesen Bauern verstehen? Frag ihn, was er hier zu suchen hat.«
»Ich spreche seine Sprache nicht«, sagte Agnes.
»Wenn du draußen im Wald geblieben wärst, hättest du mich abgehängt«, sagte der Dominikaner. »Dich hier zu verkriechen war ein Fehler. Ich habe deine Spuren im Schnee gesehen – es war kein Problem für mich, dir zu folgen.«
»Bescheidenheit ist eine Zier«, sagte Agnes.
Zu Cyprians Überraschung seufzte der Mönch. Cyprian blickte getreu seiner Rolle von einem zum andern und grunzte verständnislos. Er hatte festgestellt, dass die Blicke des Mönchs bei jeder Bewegung, jedem Laut von ihm sofort abirrten und ihn nervös musterten. Es konnte nicht schaden, ihn noch ein wenig nervöser zu machen. Cyprians Gedanken versuchten sich von dem Wust an Emotionen, in denen sich sein Verstand drehte, freizumachen.
»Deine Flucht war sinnlos«, sagte der Mönch. »Es geht mir um das Buch, sonst nichts. Du musst nicht mit ihm verbrennen, wenn es nicht sein muss. Aber wenn du mich weiterhin aufhältst, mache ich dir hier und jetzt ein Ende.«
Agnes antwortete nicht. Der Mönch machte eine einladende Handbewegung. »Komm mit. Die halbe Nacht in diesem Irrgarten herumzulaufen und nach dir zu suchen hat schon zu viel Zeit gekostet. Meine Brüder werden das Lager schon abgebrochen haben.«
Cyprian vermied es angestrengt, zu dem Felsspalt hinüberzusehen, aus dem der Dominikanermönch aufgetaucht war. Stattdessen riss er die Arme hoch und begann laut zu jammern. Der Mönch zuckte zusammen und richtete die Armbrust wieder auf ihn.
»Wenn es so weit ist, versteck dich hinter mir!«, rief er im Tonfall eines Mannes, dessen eigentlicher Text lautet: Was ist hier eigentlich los? Ich hab nichts getan! Lasst mich nach Hause! Er hoffte, dass der Dominikaner seine Sprache wirklich nicht verstand. »Keine Angst, er ist unser Freund!«
Es dauerte einen Augenblick, bevor Agnes reagierte – einenAugenblick, der so lang war wie noch kein Augenblick zuvor, in dem die Armbrust begann, wieder umzuschwenken, in dem sich ein Daumen unwillkürlich auf den Auslöser senkte, in dem Cyprian sicher war, dass Agnes es nie schaffen würde, sich hinter seinen Rücken zu flüchten, in dem eine ganz dünne Stimme in ihm rief: Willst du für sie sterben? Und eine viel lautere antwortete: JA! Dann erstarrte alles. Langsam hob der Dominikaner den Daumen wieder vom Auslöser. Seine in den Brillengläsern schwimmenden Augen waren weit aufgerissen.
»Deine Brüder«, sagte Andrej freundlich in das Ohr des Mönchs, »haben nicht nur das Lager, sondern überhaupt die Zelte abgebrochen und verhandeln gerade mit dem Teufel darüber, in welchen Kreis der Hölle sie aufgenommen werden. Im Übrigen ist das, was du an deinem Hals spürst, ein Messer.«
Cyprian starrte auf die schimmernde Klinge zwischen Andrejs Fingern. Die Klinge lag leicht an der Kehle des Dominikaners. Ein Tropfen löste sich von ihr und rollte den Hals des Dominikaners hinab. Der Mönch schluckte
»Der Mann versteht dich nicht«, sagte Cyprian, der sich fühlte wie unter Wasser. »Versuch’s mit Latein.«
»Ich versuch’s hiermit«, sagte Andrej und drückte die Klinge stärker gegen den Mönchshals. Dieser ließ langsam und mit verbissenem Gesicht die Armbrust sinken.
Cyprian machte einen langen Schritt vorwärts und nahm die Waffe an sich. Er hob die Armbrust und zielte auf den Mönch. Dessen Augen hinter den Brillengläsern wurden schmal. Cyprian zitterte. Er dachte an jenen einzigen, langen Moment, in dem er geglaubt hatte, die Armbrust würde losgehen und entweder Agnes oder ihn treffen. Er dachte daran, wie der Mönch gesagt hatte, dass er Agnes auf der Stelle töten würde. Er kostete plötzlich einen Schatten des Gefühls, wie es gewesen wäre, sich über Agnes zu beugen und ihrem brechenden Atem zu lauschen, während ein Armbrustbolzen in ihrem Herzen steckte.
Dann drückte er ab.
»Jemand hat mal zu mir gesagt, wer eine Waffe trägt, benutzt
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