Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
Vom Netzwerk:
gerade noch eingefallen ist?«, fragte er.
    »Meiden Sie den Dienstbotentrakt«, sagte der Bettler. Pater Xavier hatte das Gefühl, dass er seine Augen hätte zucken sehen, wenn er die Binde entfernt hätte.
    »Noch etwas?«
    »Gehen Sie zum Teufel, Pater.«
    »Gott segne dich, mein Sohn.« Pater Xavier wandte sich um und ging gelassen davon.
    »Was wäre denn Ihre erste Möglichkeit gewesen, Pater?«, rief der Bettler ihm hinterher.
    Pater Xavier deutete auf die Gruppe Stadtknechte mit Spießen und Armbrüsten, die über den Platz trabten und die das Stiefelgeräusch verursacht hatten. Er drehte sich nicht um dabei und warf dem Bettler auch keinen Blick mehr zu. Aber er registrierte mit Befriedigung, dass erst nach seinem Eintritt in eine der dunklen Gassen das tönende »Almosen, ihr guten Leute, Almosen für einen Blinden!« wieder zu vernehmen war.
    Für eine Weile war die Hofburg in Wien Pater Xaviers Lebensraum gewesen. Als er über die Zugbrücke und durch das zwar bewachte, aber nicht gesicherte Ehrentor in den ersten Burghof des Hradschin schritt, von den Wachen nur mäßig interessiert gemustert, wusste er, dass Kaiser Rudolf hier sein Zuhause gefunden hatte. In Wien hatte der Kaiser, damals erst Erzherzog von Österreich, ständig über die offene, ungeregelte, unsymmetrische Struktur des kaiserlichen Machtzentrums gestöhnt – die enge Hofburg selbst, der völlig losgelöst davon erbaute Arkadenhof, den zu erreichen man über freies Gelände gehen musste und den man wegen seiner Unbeliebtheit kurzerhand in Stallburg umgetauft und den Pferden als Domizil überlassen hatte; selbst seinen eigenen Versuch, ein für ihn angemessenes Gebäude östlich der alten Hofburg zu errichten, hatte er zu hassen begonnen, kaum dass er sich zu dem merkwürdig trapezförmigen Grundriss hatte zwingen lassen. Drei Gebäude, verteilt über eine gewaltige Fläche, zwischen Hütten, Ställen und Gesindehäusern aufragend, von keiner Mauer geschützt, in die Wiener Ebene geklotzt mit dem offenkundigen Willen zum Kompromiss und unter dem Diktat des ästhetischen Pragmatismus; und hier das genaue Gegenteil davon: eine geschlossene Burganlage, im Norden und Süden durch tiefe natürliche Wälle der umgebenden Stadt entrückt, im Westen durch einen künstlichen Graben und im Osten durch den steil abfallenden Hang des Burgbergs geschützt. Der Hradschin zog sich auf dem Rücken des großen Felsens von Westen nach Osten hin wie die zu Quadern, Dachschrägen, Zinnen und Turmspitzen erstarrte Schaumkrone einer steinernen Welle, die über Prag hoch gegischtet und dort für immer festgehalten worden war; und mit den Schatten, die ringsherum im Lauf eines Tages an ihr herabrannen, sickerten die Krankheit ihres kaiserlichen Bewohners und die Korruption seines Hofstaates in die Stadt drunten hinab.
    Man konnte dies wissen und dennoch beeindruckt sein;man konnte, wenn man vom zweiten in den dritten Burghof gelangt war und erkannte, dass der mächtige Veitsdom in Wahrheit eine Bauruine war, die viele geniale Männer angefangen und keiner von ihnen je beendet hatte, dennoch den Kopf in den Nacken legen und staunen; man konnte die Augen schließen und die in die Höhe schießenden Monumente von Selbstbewusstsein und architektonischer Größe ringsherum fühlen und sich gleichzeitig klein und doch geborgen vorkommen – was die Macht gehabt hatte, solche Bauten zu befehlen, musste doch auch die Macht haben, der Christenheit und einem selbst in die Seligkeit vorauszuschreiten.
    Pater Xavier, der ziemlich genaue Vorstellungen von der Macht des Kaisertums und den Intentionen ihres derzeitigen Inhabers hatte, fühlte nichts dergleichen. Er schlenderte auf den Eingang des Königspalastes zu, zog ein überraschtes Gesicht, als die Wachen ihn aufhielten, sagte seinen Vers über die Doktores Maier und Ruland auf und wurde nach einem winzigen Zögern eingelassen. Die Marotte des Kaisers, die den Hradschin zu einer versiegelten Festung machte, war gleichzeitig auch dessen Schwachstelle.
    Pater Xavier war ohne konkreten Plan in den Hradschin gekommen, wenn man es nicht als Plan bezeichnen wollte, dass er an diesem ersten Tag nichts zu erreichen hoffte. Auch im Inneren eines Ungetüms wie des Hradschin flüsterten die losen Zungen nicht in das erstbeste Ohr; auch inmitten der tausend dienstbaren Seelen, die hier durch die Räume trieben, mussten diejenigen erst gefunden werden, denen man die richtigen, scheinbar arglosen Fragen stellen konnte. Vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher