Die Teufelsbibel
betrachtete den Kohlestaub an den Kuppen von Daumen, Zeige- und Mittelfinger, als suche er nach einer Spur, dass seine Hand von einer unsichtbarenMacht gelenkt worden war. Zuletzt wischte er sie nachdenklich an der Soutane ab. Dann musterte er sein Schema erneut.
Der kräftige Strich war der, der zu Agnes Wiegant führte.
Bischof Khlesl nahm die Zeichnung vorsichtig auf, trug sie zum Kaminfeuer, legte sie hinein und beobachtete ihr Vergehen in den Flammen, bis auch die letzte Flocke verkohlten Pergaments hochgewirbelt, zerstäubt, zu Asche geworden war.
Dann läutete er nach einem Diener. Er lächelte nicht mehr.
13
Als der Ruf zu den Laudes ertönte, lag Pater Xavier bereits seit zwei Stunden wach. Er hatte alle Geräusche aus dem Schlafsaal der Mönche ausgeblendet; allein lebenslange Gewohnheit sorgte dafür, dass der Gebetsruf zu ihm durchdrang. Er hatte die Augen geöffnet gehalten, aber das langsame Hereinsickern der Morgendämmerung durch die großen Bogenfenster hatte er nicht wahrgenommen, ebenso wenig wie die beginnende Herbstkühle, die in der Stunde vor Sonnenaufgang am harschesten war und wie ein Hauch durch die geborstenen Fenster wehte. Pater Xavier war allein in dem persönlichen Raum gewesen, den seine Konzentration geschaffen hatte und in dem es außer ihm nur die Frage gab, die er zu beantworten versuchte, seit er vor sieben Tagen in Prag angekommen war.
Um ihn herum erhoben sich die Mönche von Brevnov, manche freudig den Beginn des neuen Tages begrüßend, die meisten ächzend und schnaubend, als wäre das Leben in der Halbruine, die ihr Kloster seit den Hussitenkriegen war, bis in ihre Knochen gedrungen und hätte sie ebenfalls zu morschen Überresten einstiger Stärke reduziert.
Pater Xavier schwang die Beine von der Pritsche, nickte den Benediktinern zu, gab sich den passenden Anschein vonBescheidenheit und Zurückhaltung, der dem Angehörigen eines anderen Ordens, der als Gast aufgenommen war, anstand, und schlurfte am Ende der schütteren Gruppe aus dem Dormitorium hinaus. Der Gottesdienst zu den Laudes würde ihm eine weitere Möglichkeit bieten, über die Frage nachzudenken, doch im Grunde hatte er sie bereits beantwortet.
Die Antwort lautete Nein.
14
»Kannst du sie hören, kannst du sie riechen, kannst du sie fühlen – die Stadt der hundert Glockenspiele und Choräle, der fremdländischen Düfte und höllischen Ausdünstungen, der Pflastersteine unter deinen Füßen und der zauberhaften Hände auf deiner nackten Haut? Das ist PRAG! Kannst du sie sehen, die Stadt der hundert Türme – den Weißen und den Schwarzen Turm, den Daliborka-Turm, den Mihulka-Turm, den Heinrichsturm, den Nikolausturm, die Türme von Maria vom Teyn, von Sankt Veit, den Rathausturm? Das ist PRAG! Kannst du sie sehen? Kannst du sie hören, kannst du sie riechen? Siehst du die Burg auf ihrem Hügel thronen, hörst du die Löwen im Hirschgraben brüllen, riechst du die Schwaden aus den Hexenstuben in der Goldmachergasse? Das ist PRAG! Kannst du sie sehen, die Prinzessin Libuše, wie sie ihren Rittern befiehlt, vor Přemysls Schwelle niederzuknien und die Stadt Prag zu gründen? Kannst du sie hören, Dalibors Geige, die er noch spielte, als er zum Scharfrichter geführt wurde, und die erst verstummte, als sein Kopf unter dem Beil fiel? Kannst du sie riechen, die halb verweste Brigitta, deren Geist in Gewitternächten durch die Gassen weht und jeden Vornübergehenden küsst, weil sie hofft, die Lippen ihres Geliebten zu schmecken, die ihm die Raben am Galgen von den Zähnen gepickt haben? Das ist PRAG, Fremder, das ist das Paradiesdes Teufels, das ist die Stadt der Engel, kannst du sie riechen, kannst du sie hören, kannst du sie SEHEN? Schätze dich glücklich, Fremder, denn ich kann es nicht! Almosen, ihr guten Leute, Almosen für einen Blinden, Almosen für einen Blinden!«
Pater Xavier starrte auf den Bettler hinab, der an der Flanke der Marienkirche auf dem Boden kauerte, eine Lederkappe vor sich. Sein Oberkörper pendelte hin und her, der Leinenstreifen um die Mitte seines Haupts war schmutzig und dort, wo die Augen gewesen wären, halb durchtränkt von einer wässrig roten Flüssigkeit. Der Mann schrie mit tönender, heiserer Stimme. In seiner Lederkappe befanden sich ein paar Münzen, eine Handvoll Haferkörner, ein halb aufgegessener Wecken und ein grob geschnitztes Männchen, von dem sich ein mitleidiges Kind getrennt haben musste. Über Pater Xaviers Gesicht huschte ein leichtes Lächeln. Der
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