Die Teufelsbibel
Blinde stellte das Pendeln ein, witterte mit ruckartigen Kopfbewegungen und richtete schließlich sein Gesicht auf Pater Xavier.
»Wie geht es dir, Fremder?«, fragte er mit ruhiger, tiefer Stimme.
»Ganz gut, denke ich«, sagte Pater Xavier. »Gott segne dich, mein Sohn.«
»Dank sei Gott dem Herrn, Bruder. Er segne auch Sie.«
Pater Xavier fühlte eine Leichtigkeit, die er die ganzen sieben Tage in der Klausur des Benediktinerklosters nicht gespürt hatte. Es war die Leichtigkeit des Jägers, der zwar noch nicht weiß, wo sich seine Beute versteckt, der sich aber endlich aufgemacht hat, nach seiner Fährte zu suchen. Der Jäger weiß, dass die Beute zuschlagen kann, noch bevor er gewappnet ist, und sei es aus purer Angst. Das war die Antwort auf die Frage, die er sich so lange gestellt hatte, wie Gott benötigt hatte, um die Welt zu schaffen: Konnte er seine Mission erfüllen, ohne sich im Hradschin aufzuhalten, im Zentrum desSpinnennetzes, im Knotenpunkt der Macht, der Gerüchte, der Halbwahrheiten und verdrehten Tatsachen, im Magnetberg für alles, was jenseits der Grenzen des katholischen Glaubens wandelte? Konnte er anderswo als im Reich des Alchimistenkaisers eine Hoffnung haben, die Spur zu seinem Ziel aufzunehmen?
Die Antwort war Nein gewesen.
»Also gut«, sagte er. »Woher weißt du es?«
»Die Stimme, Bruder. Die Stimmen der Menschen sagen einem alles. Man muss nur zuhören wollen. Und was kann ein Blinder besser als zuhören? Almosen, ihr guten Leute, Almosen für einen Blinden!«
Pater Xavier trat beiseite, als ein Mann sich bückte, eine Münze in die Lederkappe schlüpfen ließ, sich bekreuzigte und weiterging. Der Blinde nickte ernst vor sich hin.
»Und was hat dir meine Stimme gesagt?«
»Sie ist leise, Bruder. Ein Mann Gottes hat es nicht nötig, laut zu sprechen, er weiß, dass er gehört wird. Sie hat einen Akzent, Bruder, und ich glaube verdörrte Ebenen, glühende Steine und das Blau eines kalten Meeres darin zu vernehmen. Sie spricht die Worte Gottes, Bruder, und so früh am Tag und außerhalb der Kirchen vernimmt man das Wort Gottes nicht oft.«
»Schön, schön«, sagte Pater Xavier. »Man könnte einen mit so einem scharfen Gehör geradezu beneiden.«
»O nein, Bruder, beneiden Sie mich nicht. Gott hat mir das Augenlicht genommen, weil ich ein armer Sünder war. Ich bereue und habe meine Strafe angenommen, aber beneiden Sie mich nicht, Bruder, wirklich nicht.«
»Stammst du aus Prag?«
»Dreißig Jahre auf dem Pflaster, in den Gassen und unter den Türmen – das bin ich, Pater, jawohl. Dreißig Jahre mit dem Kuss von Engeln auf der Stirn und dem Biss der Teufel im Arsch, wenn Sie entschuldigen wollen, Pater.«
»Kennst du dich gut aus?«
»Ich habe den Pflastersteinen in jeder Gasse Namen gegeben, Pater. Hier …«, die Hände des Bettler flatterten über den Boden, »der da, der so aufragt, das ist Horymir, und der breite daneben, das ist Horymirs Pferd ˇSemík, wie es über die Burgmauer springt und den Abhang hinuntergleitet, um seinen Herrn vor der drohenden Hinrichtung zu retten.«
»Und auf der Burg?«
»O Bruder, wie sollte ich mich auf dem Hradschin nicht auskennen, wo ich doch die gesegneten Jahre meines Lebens dort verbracht habe? Ich war ein Dienstbote, Bruder, ich hatte es warm und trocken und jeden Tag genügend zu essen und zu trinken, und das machte mich hoffärtig und leichtsinnig. Ja, heute kann ich es zugeben, denn ich bin ein reuiger Sünder, und diesen gehört die Liebe unseres Herrn Jesus: ich habe gestohlen, Bruder, und man hat es entdeckt, mir das Augenlicht genommen und mich auf die Straße geworfen. Ich trage es ihnen nicht nach, Bruder, denn die Strafe war gerecht, und –«
Pater Xavier nickte. Er holte eine Münze aus seiner schmalen Börse, hielt sie über den Lederbeutel, rückte die Hand nach kurzem Zögern ein paar Zoll beiseite und ließ die Münze fallen.
»– die Nachsicht unseres Herrn hat mir dafür andere Sinne gegeben.«
Die Münze fiel neben den Lederbeutel auf das Pflaster und sprang davon. Pater Xaviers Fuß schoss nach vorn und nagelte Münze und Hand des Blinden, der noch schneller danach gegriffen hatte, auf dem Boden fest.
»Autsch!«, sagte der Blinde, »Gottverdammt!« Er versuchte, die Hand unter Pater Xaviers Fuß hervorzuziehen, aber der Dominikaner verlagerte sein Gewicht auf den Fuß. Der Blinde ächzte und gab seine Bemühungen auf. Halb zu Füßen Pater Xaviers liegend, starrte er mit verzerrtem Gesicht zu
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