Die Teufelssonate
unter seinen Beinen hervorzog und auf die Rückbank warf. »Sonst nörgelt Wim nachher, daß meine Cannelloni nach Schweißsocken riechen. Du weißt ja, Wim riecht alles. Der Mann ist hypersensibel.«
Notovich versuchte, ein Gespräch über Lindas Männer zu vermeiden. Sie hatte eine Reihe von katastrophalen Beziehungen hinter sich. Linda war auch nicht einfach, aber sie schien immer an die Falschen zu geraten: Entweder gingen sie fremd oder waren verheiratet, schlugen Frauen oder wollten selbst geschlagen werden, standen auf kleine Jungen oder bewahrten in ihrem Portemonnaie ein Foto von Adolf Hitler auf.
»Es liegt an mir, ich ziehe es einfach an«, sagte sie dann. »Vielleicht finde ich tief im Inneren, daß ich es nicht besser verdiene.« Das hatte sie in irgendeinem Magazin gelesen. Im Laufe der Zeit wurde sie allerdings immer kritischer und mißtrauischer. Sie setzte die Männer bei der geringsten Kleinigkeit vor die Tür. Wenn es schlecht lief, nahm sie zehn Kilo ab; wenn sie wieder Single war, nahm sie fünfzehn Kilo zu. Eines Tages beschloß sie, daß es für ihre Figur besser wäre, wenn sie es bei einem Mann aushalten und diesem bedingungslos vertrauen würde. Und Wim war der Glückliche. Aber auch Wim sollte irgendwann dahinterkommen, daß es eigentlich nur einen Mann in ihrem Leben gab, dem sie bedingungslos treu blieb. Das war Mischa.
»Ich hab nicht viel Zeit. Wim möchte, daß ich da bin, wenn er nach Hause kommt. Auch wenn er sich nie traut, es zu sagen.«
Notovich nickte.
»Wie war's?« erkundigte sie sich in einem Ton, als ob er eine Klassenarbeit geschrieben hätte.
»Gut.«
»Ich gehe morgen einfach mit.«
»Kommt nicht in Frage.«
Sie schaltete aus Versehen in einen zu niedrigen Gang, der Motor heulte auf. Ruppig schaltete sie zurück und seufzte verärgert.
Linda war zwei Jahre jünger als er. Ihre Mutter, Anya Notova, war eine russische Ballerina, die in den siebziger Jahren in den Westen geflüchtet war. Sie war damals schon mit Mikhael schwanger, dank einer Begegnung mit einem hohen Funktionär der Kommunistischen Partei, der ein ungesundes Interesse für Tänzerinnen hatte. Er verlangte sofort eine Abtreibung, aber Anya war ein tief religiöses Mädchen. Sie bat in Paris um Asyl und fand eine Anstellung bei einer großen Ballettgesellschaft, die viel herumreiste.
Bei einem Empfang in Den Haag lernte sie einen niederländischen Diplomaten kennen, der ihr ein Gefühl der Geborgenheit gab. Sie heirateten schnell und bekamen noch ein Kind, Linda.
Anya war schwermütig. Es gab aber auch kurze Phasen, in denen sie die Kinder in teure Opernvorstellungen oder auf Kurztrips nach Paris und Warschau mitnahm. Manchmal verschwand sie plötzlich für ein paar Tage, ohne etwas von sich hören zu lassen. Sie schien glücklich zu sein über ihre beiden Kinder. Mit Mikhael und Linda sprach sie Russisch, wodurch der Vater die Witze bei Tisch nicht verstehen konnte.
Die offizielle Todesursache war eine verschleppte Lungenentzündung, Notovich war allerdings davon überzeugt, daß es unheilbares Heimweh nach Rußland gewesen war.
Sein Stiefvater merkte, daß Mikhael am meisten unter dem Verlust litt. Er versuchte verzweifelt, neu anzufangen, und trat eine Stelle in Madrid an, womit er seine Chance auf eine Beförderung verspielte. Doch in dieser fremden Umgebung wurden die Kinder immer mehr aufeinander zugetrieben. Nichts konnte die beängstigende Leere im Leben des kleinen Jungen füllen, auch nicht die noch jüngere Linda. Bei Tisch sprachen sie Niederländisch und ab und zu ein Wort Englisch oder Spanisch. Mikhael notierte alle russischen Vokabeln, die er von seiner Mutter gelernt hatte, um sie nicht zu vergessen. Und wenn nötig, könnte er sie dann auch Linda beibringen. Er nahm sich vor, später nach Moskau zu gehen. Die beiden Kinder schliefen in einem Bett, gingen zu zweit in die Wanne und zogen sich zusammen in eine Welt zurück, die immer kleiner wurde.
Ihr Vater sah, daß das Verhältnis allmählich etwas Unnatürliches bekam, auch wenn Mikhael erst elf war und Linda acht. Mikhael wurde ein aufsässiger Schüler. Er war ein Einzelgänger, der kein Bedürfnis nach der Anerkennung von Freunden zu haben schien. Schon allein deshalb übte er auf seine Klassenkameraden eine merkwürdige Anziehungskraft aus. Mitunter überredete er sie zu gefährlichen Spielen, und die Klagen von anderen Eltern häuften sich. Mikhael blieb manchmal tagelang dem Unterricht fern. Niemand hatte ihn im
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