Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
Schneise, wo ich den Wagen stehen ließ.«
Das ist nicht möglich …
Viktor musste den Impuls unterdrücken, sofort aufzuspringen und Anna seine nächsten Fragen brüllend an den Kopf zu werfen. Er kannte den beschriebenen Weg. Er war die Route früher selbst oft gefahren. Beinahe jedes Wochenende.
»Wohin sind Sie gegangen, nachdem Sie ausgestiegen waren?«
»Einen Trampelpfad entlang. Er war so schmal, dass man hintereinander gehen musste. Am Ende erwartete uns ein kleiner Bungalow aus Holz, ähnlich einer Blockhütte, nur moderner. Er war herrlich gelegen.«
Mitten im Wald, dachte Viktor und nahm Anna in Gedanken bereits die nächsten Worte aus dem Mund.
»Es gab keine Nachbarn. Weit und breit sah man nichts als Kiefern, Buchen und Birken. Die Laubbäume hatten alle ihre noch vor wenigen Tagen leuchtend bunt gefärbten Blätter verloren, auf denen wir nun wie auf einem weichen Teppich schritten. Trotz des ungemütlich kalten Novemberwetters hatte der Wald etwas Warmes an sich. Er war wunderschön. So schön, dass ich mir heute nicht mehr sicher bin, ob er wirklich real war oder nur eine Halluzination. Wie Charlotte.«
Viktor wusste in diesem Moment selbst nicht, was ihm lieber gewesen wäre. Dass die schizophrenen Anfälle von Anna etwas mit dem Verschwinden seiner Tochter zu tun haben könnten. Oder dass ihm sein Wunschdenken nur einen bösen Streich spielte. Bisher konnte das alles nur ein makaberer Zufall sein. Im Havelland gibt es unzählige Wochenendhäuser.
Aber es gab nur einen, der …
»Können Sie sich daran erinnern, ob Sie etwas gehört haben, als Sie vor dem Bungalow standen?«
Anna sah ihn fragend an.
»Ist das für meine Therapie wichtig?«
Nein. Aber für mich.
»Ja«, log er.
»Um ehrlich zu sein, ich hörte nichts. Rein gar nichts. Es war so still wie auf einem einsamen Berg, zweitausend Meter über dem Meeresspiegel.«
Viktor nickte bedächtig, obwohl er am liebsten den Kopf wie bei einem Rock-Konzert geschüttelt hätte. Das war genau die Antwort, die er erwartet hatte. Er wusste, wohin Anna von Charlotte geführt worden war. Die Ruhe im Sacrower Forst zwischen Spandau und Potsdam war so beeindruckend, fast greifbar, dass sie von Stadt-Besuchern normalerweise als Erstes wahrgenommen wurde.
Anna schien die Gedanken von Viktor lesen zu können.
»Ich fragte Charlotte natürlich, wo wir seien, aber sie sah mich nur irritiert an. ›Du kennst doch den Ort‹, antwortete sie perplex. ›Das ist das Wochenendhaus unserer Familie. Ich war mit meinen Eltern jeden Sommer hier. Und hier hatte ich den letzten schönen Tag meines Lebens. Bevor alles anfing.‹«
»Was anfing?«, fragte Viktor.
»Ihre Krankheit, nehme ich an. Aber Genaueres wollte sie mir zu diesem Zeitpunkt nicht verraten. Im Gegenteil. Sie zeigte fast wütend auf den Bungalow und fragte: ›Wer von uns beiden ist denn die Schriftstellerin? Sag du mir, was da drinnen passiert ist!‹«
»Wussten Sie es?«
»Leider nein. Aber Charlotte hatte mir in der Zwischenzeit oft genug gesagt, sie werde so lange in meinem Kopf umherspuken, bis ich das Buch über sie abgeschlossen hätte. Also musste ich mir ein Bild vom Inneren des Hauses verschaffen. Ich schlug eine Scheibe am Hintereingang ein und kletterte wie ein Einbrecher durchs Fenster.«
Das macht keinen Sinn, dachte Viktor. Josy hätte gewusst, wo der Schlüssel liegt.
»Ich tat das alles in der Hoffnung, dort irgendeinen Anhaltspunkt für Charlottes Krankheit zu finden.«
»Und? Waren Sie erfolgreich?«
»Wieder nein. Aber ich wusste ja auch nicht genau, wonach ich suchen sollte. Das Einzige, was mir sofort auffiel, war die Größe des Bungalows. Von außen hätte ich das einstöckige Gebäude auf maximal drei Zimmer geschätzt. Aber neben zwei Bädern, einer geräumigen Küche und einem Wohnzimmer mit Kamin gab es dort mindestens noch zwei Schlafzimmer.«
Drei, korrigierte Viktor stumm.
»Ich durchsuchte alle Kommoden, Schränke und Regale, sogar den Spülkasten im Bad. Das ging zum Glück sehr schnell, da das Wochenendhaus äußerst puritanisch ausgestattet war. Schlicht, aber teuer.«
Phillip Stark, etwas Bauhaus. Isabell hat es eingerichtet.
»Was machte Charlotte eigentlich, während Sie das Haus durchsuchten?«, hakte Viktor nach.
»Sie wartete draußen. Nie wieder würde sie einen Fuß dort hineinsetzen, hatte sie mir zuvor erklärt. Zu viel Böses sei an jenem Tage passiert. Sie gab mir allerdings unentwegt Anweisungen, die sie mir von der Vordertür
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