Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
dazu bewog, den Rücklichtern unzähliger Autos hinterher zu sehen. Viktor fuhr in seinem Volvo immer viel zu schnell vorbei. So schnell, dass es ihm an den Hunderten von Tagen nie gelungen war, den Gesichtsausdruck des Mannes zu studieren. Obwohl er ihn fast täglich gesehen hatte, hätte er ihn bei einer Gegenüberstellung nicht wiedererkennen können.
Auch Josy bemerkte den Mann eines Tages, als sie vom Deutsch-Französischen Volksfest gemeinsam mit Isabell nach Hause fuhren.
»Warum steht der Mann da?«, fragte sie und drehte sich dabei während der Fahrt nach hinten um.
»Er ist etwas verwirrt«, hatte Isabell nüchtern diagnostiziert, aber Josy war gar nicht darauf eingegangen.
»Ich glaube, er heißt Albert«, murmelte sie leise zu sich selbst; Viktor hatte es dennoch gehört.
»Wieso denn Albert?«
»Weil er ein alter Mann ist und einsam.«
»Ach, und alte, einsame Männer heißen so?«
»Ja«, war ihre schlichte Antwort, und damit war die Sache erledigt. Fortan besaß der Unbekannte am Straßenrand einen Namen, und Viktor ertappte sich manchmal sogar selbst dabei, wie er ihm zunickte, wenn er werktags an ihm vorbeifuhr.
»Hallo, Albert!«
Erst sehr viel später, als er eines Tages auf dem Marmorboden des Badezimmers aus seinem Rausch aufgewacht war, wurde ihm klar, dass auch Albert etwas suchte. Etwas, das er irgendwo verloren hatte und in den vorbeirasenden Autos wieder zu finden glaubte. Albert musste ein Seelenverwandter sein. Kaum war Viktor dieser Gedanke gekommen, hatte er sich auch schon an das Steuer seines Volvos gesetzt und war zum Messedamm an der Deutschlandhalle gefahren. Doch schon von weitem konnte er sehen, dass Albert an diesem Tag nicht an seinem Platz stand. Und auch an den folgenden Tagen, an denen Viktor nach ihm Ausschau hielt, wollte der einsame Mann sich nicht mehr zeigen.
Viktor hätte ihn gerne gefragt: »Entschuldigen Sie, aber wonach suchen Sie? Haben Sie auch jemanden verloren?«
Aber Albert blieb verschwunden. Er zeigte sich nie wieder.
Wie Josy.
Als Viktor am achtzehnten Tag erfolglos wieder nach Hause fuhr, um eine neue Flasche zu öffnen, erwartete ihn Isabell mit einem Brief in der Haustür. Es war die Anfrage für das Interview mit der Bunten .
»Dr. Larenz?«
Die Frage riss Viktor jäh aus seinem Tagtraum. Er stand so ruckartig auf, dass er sich mit seinem rechten Knie am Schreibtisch stieß. Gleichzeitig verschluckte er sich und fing an zu husten.
»Ich muss mich wohl erneut entschuldigen«, sagte Anna, die unvermittelt hinter ihm stand, machte aber keinerlei Anstalten, auf ihn zuzugehen oder ihm zu helfen.
»Ich wollte Sie nicht schon wieder erschrecken, aber ich hatte mehrfach geklopft, und dabei ging die Tür auf.«
Viktor nickte scheinbar verständnisvoll mit dem Kopf, obwohl er sich sicher war, die Haustür abgeschlossen zu haben. Er griff sich an den Kopf und merkte, dass ihm der Schweiß auf der Stirn stand.
»Sie sehen schlechter aus als gestern, Doktor. Ich gehe wohl besser.«
Viktor bemerkte, wie Anna ihn intensiv ansah, und stellte gleichzeitig fest, dass er vor Schreck noch gar nichts gesagt hatte.
»Nein«, sagte er etwas lauter als beabsichtigt.
Anna legte den Kopf schief, als ob sie nicht richtig verstanden hätte, was er gesagt hatte.
»Nein«, wiederholte Viktor, »das ist wirklich nicht nötig. Bitte, setzen Sie sich. Es ist gut, dass Sie da sind. Ich habe mehrere Fragen.«
12. Kapitel
A nna legte Mantel und Schal ab und machte es sich wieder auf dem Sofa bequem. Viktor hatte seinen alten Platz am Schreibtisch nicht verlassen. Er tat so, als suche er im Computer eine Datei mit Notizen zu ihrem Fall. Tatsächlich waren alle wesentlichen Fakten in seinem Gedächtnis gespeichert, und er wollte nur etwas Zeit schinden, bis sich seine Nerven wieder so beruhigt hatten, dass er in der Lage war, mit der Befragung zu beginnen.
Als sein Puls wieder eine normale Frequenz erreicht hatte, wurde Viktor bewusst, dass er heute seine ganze Kraft würde aufbringen müssen, um Annas Erzählungen aufmerksam folgen zu können. Er fühlte sich wie nach einer durchfeierten Nacht: schläfrig, ausgelaugt und kraftlos. Zu allem Überfluss breiteten sich vom Nacken her Kopfschmerzen manschettenartig aus und zerrten an seinem Hinterkopf. Er griff sich an die hämmernden Schläfen und sah durch die Fensterscheibe aufs Meer hinaus.
Die sich überschlagenden Wellen erinnerten ihn an königsblaue Tinte. Und je dichter sich die Wolken zusammenzogen, desto
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