Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
dunkler wurde das Wasser. Die Sichtweite lag jetzt bereits bei weniger als zwei Seemeilen, und der Horizont schien mit jeder Minute näher an die Insel zu rücken.
Im Spiegelbild der Fensterscheibe sah Viktor, dass Anna sich Tee eingegossen hatte und jetzt gesprächsbereit war. Er drehte sich mit seinem Schreibtischsessel zu ihr herum und begann.
»Ich würde gerne da ansetzen, wo wir gestern aufgehört haben.«
»Gerne.«
Anna hob die zierliche Tasse zum Mund, und Viktor fragte sich, ob der dezent aufgetragene hellrote Lippenstift am Meißener Porzellan haften bleiben würde.
»Sie sagten, Charlotte wäre von zu Hause fortgelaufen, ohne ihre Eltern davon zu unterrichten?«
»Ja.«
Josy hätte das nie getan, dachte Viktor. Er hatte über diese Möglichkeit die ganze Nacht gegrübelt und war zu dem Ergebnis gekommen, dass das Verschwinden seiner Tochter nicht diesen banalen Grund gehabt haben konnte. Sie war keine Ausreißerin.
»Charlotte verließ das Elternhaus auf eigene Faust, um die Ursache ihrer mysteriösen Krankheit herauszufinden«, sagte Anna. »So weit der Inhalt des Buches von Seite 1 bis 23. Die Krankheit, das Versagen der Schulmedizin und die Flucht. Bis dahin bin ich gekommen, aber dann habe ich keine weitere Zeile mehr geschrieben.«
»Ja, das sagten Sie bereits. Aber gab es dafür eigentlich einen besonderen Grund?«
»Ja. Die Antwort ist ganz banal. Ich wusste einfach nicht, wie die Geschichte weitergehen sollte. Also speicherte ich den Entwurf auf meinem Computer und vergaß die unvollendete Datei.«
»Bis Charlotte sich verselbständigte?«
»Genau. Und das war schrecklich. Wie Sie wissen, hatte ich schon früher zahlreiche schizophrene Schübe. Ich sah irreale Farben, hörte Stimmen und Geräusche, aber Charlotte war schließlich der Höhepunkt. Von allen Figuren aus meinen Büchern wurde sie zu meiner wirklichkeitsgetreuesten Wahnvorstellung.«
Zu wirklich?
Viktor griff nach seiner Tasse Tee und merkte, dass die Erkältung jetzt schon seine Geschmacksnerven angegriffen hatte. Er konnte nicht mehr unterscheiden, ob der Tee wirklich schlecht schmeckte oder ob die Nasentropfen, die er immer wieder anwendete, diesen bitteren Beigeschmack verursachten.
»Sie sagten dann, Charlotte wäre fast von einem Auto angefahren worden.«
»Da habe ich sie das erste Mal bewusst wahrgenommen, ja.«
»Und dann sind Sie mit ihr vom Ort des Unfalls weggegangen?«
»Umgekehrt.« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht ich bin mit Charlotte fortgegangen, sie bat mich, ihr zu folgen.«
»Warum?«
»Sie wollte, dass ich ihren Roman endlich weiterschreibe. Wörtlich fragte sie mich: ›Warum gibt es nur zwei Kapitel? Wie geht es weiter? Ich will nicht für immer krank sein.‹«
»Also, Ihre eigene Romanfigur forderte von Ihnen, die angefangene Geschichte zu vollenden?«
»Genau. Und als Erstes sagte ich Charlotte die Wahrheit. Dass ich für sie nichts tun könne, da ich selbst nicht wüsste, wie der Roman weitergehen solle.«
»Wie reagierte sie darauf?«
»Sie griff meine Hand und sagte: ›Komm mit, ich helfe dir. Ich zeige dir den Ort, wo alles anfing. Vielleicht fällt dir ja dort ein, wie unsere Geschichte endet.‹«
Unsere Geschichte?
»Welcher Ort war das?«
»Ich weiß es nicht. Außerhalb Berlins. Ich kann mich an die Fahrt dahin nur noch bruchstückhaft erinnern.«
»Erzählen Sie mir bitte trotzdem so genau wie möglich davon«, bat Viktor.
»Ich glaube, wir fuhren mit meinem Auto die Stadtautobahn Richtung Westen. Fragen Sie mich bitte nicht nach der genauen Ausfahrt. Ich erinnere mich jedoch, wie Charlotte sich angeschnallt hat. Können Sie das verstehen? Nichts hat sich so sehr in mein Bewusstsein eingegraben wie die Tatsache, dass sich mein Hirngespinst offenbar vor einem Unfall fürchtete.«
Ja. Verstehe ich. Josy war gut erzogen. Isabell achtete immer darauf.
»Wie lange waren Sie etwa unterwegs?«
»Eine gute Stunde. Die Fahrt führte uns durch einen größeren Ort hindurch, an einer denkmalgeschützten, alten, russischen Siedlung vorbei. Glaub ich jedenfalls.«
Viktor verkrampfte beim Zuhören wie auf dem Stuhl eines Zahnarztes.
»Zumindest stand auf einer Anhöhe im Wald eine russisch-orthodoxe Kirche. Die ließen wir hinter uns, passierten eine Brücke, fuhren auf der Landstraße ein kurzes Stück weiter und bogen dann in einen befestigten Waldweg ein.«
Das ist nicht …
»Auf diesem fuhren wir vielleicht noch einen Kilometer und hielten dann in einer kleinen
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