Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
Achseln. Auch sie schien sich über die Länge der Fahrt zu wundern. Bei der hohen Geschwindigkeit hätten sie die Strandpromenade doch schon längst erreichen müssen. Weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen. Und noch etwas war seltsam: Es wurde immer dunkler. Je weiter sie fuhren, desto weniger Laternen standen am Wegrand. Stattdessen wurden die Alleebäume dichter. Schließlich gab es keine einzige Straßenbeleuchtung mehr, und zu beiden Seiten der immer schmaler gewordenen Straße erstreckte sich ein dichter, undurchsichtiger Wald.
Viktor spürte an dieser Stelle des Traums immer wieder den ersten Anflug von Entsetzen. Nicht Angst, nicht Furcht, sondern ein undefinierbares Grauen, das ihn lähmte und noch stärker wurde, als er feststellte, dass er nicht langsamer werden konnte. Er trat auf die Bremse, aber das blieb ohne Wirkung. Der Wagen erhöhte stattdessen das Tempo und wurde immer schneller auf der schnurgeraden Straße. Viktor schaltete die Innenbeleuchtung des Volvos an, und Josy suchte den Weg auf einer Karte. Aber sie konnte die Straße nicht finden, auf der sie sich befanden.
Schließlich lachte sie erleichtert auf und deutete nach vorn.
»Da, da ist ein Licht. Da vorn muss etwas sein.«
Auch Viktor konnte in weiter Entfernung vor ihnen einen schwachen Schein ausmachen, der heller wurde, je näher sie ihm kamen.
»Das muss eine Kreuzung sein oder ein Ort. Vielleicht der Strand. Wir müssen einfach nur weiter geradeaus fahren.«
Viktor nickte, und sein Puls beruhigte sich wieder etwas. Dort vorn waren sie in Sicherheit. Jetzt erhöhte er sogar mit Absicht die Geschwindigkeit des Wagens und fuhr noch schneller als bisher. Er wollte raus aus dem Wald. Raus aus der Dunkelheit.
Doch dann war es mit einem Schlag wieder da.
Das Grauen. Das Entsetzen.
Denn auf einmal erkannte er alles um sich herum ganz deutlich. Er wusste plötzlich, was das für ein Licht war, das dort auf sie wartete. Er erkannte den Irrtum von Josy und seinen eigenen Fehler, der mit dieser Fahrt mitten in der Nacht begonnen hatte. Auch Josephine wurde jetzt ängstlich, als sie zum Seitenfester hinausblickte.
Es waren keine Bäume, die am Straßenrand in der Dunkelheit standen. Dort stand überhaupt nichts. Da gab es nur Wasser. Schwarzes, kaltes, dunkles und unendlich tiefes Wasser.
Doch es war zu spät. Viktor wusste, dass ihm diese Erkenntnis nichts mehr nützte.
Sie waren die ganze Zeit auf einem Pier über dem Wasser gefahren. Fast eine Stunde hatten sie den Weg zum Meer gesucht und sich dabei die ganze Zeit direkt über ihm befunden. Sie hatten von der Küste aus mehrere Kilometer zurückgelegt und rasten jetzt auf die Schlusslichter am Steg zu, ohne dass es ihnen möglich gewesen wäre anzuhalten.
Viktor versuchte, das Lenkrad einzuschlagen, aber auch das funktionierte nicht. Denn nicht er fuhr den Wagen, sondern das Auto fuhr von ganz allein.
Der Volvo schoss mit Brachialgeschwindigkeit auf das Ende der Fahrbahn zu, hob ab und flog mehrere Meter über die Wellen der Nordsee, bis er sich schließlich nach unten neigte. Viktor starrte durch die Windschutzscheibe, versuchte im schwachen Licht der Scheinwerfer etwas zu erkennen. Aber vor ihm war nichts anderes zu sehen als der unendlich große Ozean, der sie gleich verschlucken würde. Josy, das Auto und ihn.
Viktor erwachte immer in jener Sekunde, kurz bevor der Wagen auf der Wasseroberfläche aufschlug. Das war für ihn der schlimmste Moment des Traums. Nicht, weil er wusste, dass er jetzt bald mit seiner einzigen Tochter ertrinken würde, sondern weil er den Fehler gemacht hatte, kurz vor dem Aufprall in den Fluten noch einmal in den Rückspiegel zu schauen. Das, was er dort sah, ließ ihn jedes Mal aufschreien, und der Schrei weckte regelmäßig ihn und alle, die sich in seiner Nähe befanden. Es war seine schlimmste Horrorvision. Er sah gar nichts. Der Rückspiegel war leer.
Der Steg, auf dem er so lange aufs Meer hinaus gefahren war, hatte sich in Luft aufgelöst und war verschwunden.
25. Kapitel
V iktor setzte sich ruckartig im Bett auf und merkte, dass sein Pyjama völlig verschwitzt war. Das Laken war teilweise durchnässt, und seine Halsschmerzen waren während des Albtraums noch schlimmer geworden.
Was ist nur los mit mir?, dachte er, während er darauf wartete, dass sein Herzschlag ruhiger würde. Er konnte sich noch nicht einmal daran erinnern, wie er gestern Abend von der Couch aufgestanden und nach oben ins Schlafzimmer gegangen war.
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