Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
Menschen entschied er sich zu handeln, anstatt passiv abzuwarten. Er musste Anna finden, obwohl sie ihn davor gewarnt hatte, sie zu suchen. Er wollte nicht abwarten, bis sie sich wieder bei ihm meldete. Zu groß war die Gefahr, dass sich eine weitere Barriere zwischen ihnen aufbauen würde.
Deshalb ging er in gebückter Haltung weiter die Küstenstraße entlang, zog die Kapuze wieder über seinen Kopf und versuchte, dem Wind ein möglichst geringes Angriffsziel zu bieten, während er gleichzeitig den regenwassergefüllten Schlaglöchern aus dem Weg ging. Er war noch etwa fünfhundert Meter vom Jachthafen entfernt und hatte das einzige Restaurant der Insel bereits hinter sich gelassen, als er unvermittelt anhielt und sich umsah. Er hätte schwören können, dass sich jemand vor ihm befand.
Viktor wischte sich die dicken Regentropfen aus seinem Gesicht und schirmte die Augen mit der flachen Hand in Stirnhöhe ab.
Da.
Er hatte sich nicht getäuscht. Zirka zwanzig Meter vor ihm ging eine in einen blauen Regenmantel gehüllte Gestalt durch den Sturm und zog offenbar etwas hinter sich her.
Zuerst war er nicht sicher, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte und ob er das Gesicht von vorne oder nur den Hinterkopf sah. Selbst auf diese kurze Distanz machte es der Sturm nahezu unmöglich, auch nur einzelne Details zu erkennen. Erst als ein Blitz über dem Meer die Szenerie entlang der kleinen Küstenstraße schwach beleuchtete, erkannte Viktor zeitgleich mit dem schweren Donnergrollen, wer es war, der auf ihn zukam und was er in der Hand hielt.
»Michael, sind Sie das?«, rief er dem Fährmann zu, als dieser nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war. Aber die Nebengeräusche des Orkans sorgten dafür, dass sie erst miteinander sprechen konnten, als sie unmittelbar voreinander standen und sich die Hände reichen konnten.
Michael Burg war mittlerweile einundsiebzig Jahre alt, und bei besserem Wetter sah man ihm das auch an. Wind und Salzwasser hatten tiefe Falten in die Lederhaut seines Gesichtes eingekerbt. Trotz seines hohen Alters besaß er immer noch die stattliche Erscheinung eines Menschen, der die meiste Zeit seines Lebens körperlich schwer gearbeitet hatte und dabei der guten Seeluft ausgesetzt gewesen war.
Michael gab Viktor die linke Hand. In der rechten hielt er eine Leine, an dessen Ende ein völlig durchnässter Mittelschnauzer zitterte.
»Meine Frau hat mich gezwungen, mit dem Hund rauszugehen, Dr. Larenz«, schrie der Fährmann gegen den Wind und schüttelte dabei verächtlich mit dem Kopf, so als ob er sagen wollte, dass nur ein Weibsbild auf einen derart bescheuerten Einfall kommen konnte. Viktor musste schmerzvoll an Sindbad denken.
»Aber was in Dreiteufelsnamen treibt Sie bei diesem Unwetter aus dem Haus?«, wollte Burg wissen.
Ein weiterer Blitz erleuchtete den Himmel, und Viktor bemerkte in dem Bruchteil der Sekunde, in der er einen Blick auf den Fährmann werfen konnte, einen tiefen Argwohn in dessen Augen.
Viktor entschied sich für die Wahrheit. Weniger aus Ehrlichkeit als mehr aus dem Umstand heraus, dass ihm so schnell keine plausible Erklärung für seinen gefährlichen Spaziergang durch den seit über zehn Jahren stärksten Sturm einfiel.
»Ich suche jemanden. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen.«
»So? Um wen handelt es sich denn?«
»Sie heißt Spiegel. Anna Spiegel. Eine kleine, blonde Frau, etwa fünfunddreißig Jahre alt. Sie haben sie vor drei Tagen von Sylt übergesetzt.«
»Vor drei Tagen? Das ist unmöglich.«
Unmöglich. Viktor überlegte, wie oft er in den letzten Stunden dieses Wort schon gehört oder gedacht hatte.
Unterdessen zitterte der schwarze Schnauzer heftiger und zog an der Leine. Offenbar hatte er noch weniger Lust aufs Gassi-Gehen als sein Besitzer, zumal wenn es nicht voranging.
»Was meinen Sie mit unmöglich?« Viktor hatte das Gefühl, immer lauter schreien zu müssen, damit er verstanden werden konnte.
»Ich habe den Fährbetrieb vor drei Wochen eingestellt. Sie waren der Letzte, den ich gefahren habe. Seitdem wollte niemand mehr hier auf die Insel!«
Michael zuckte mit den Achseln.
»Aber das kann nicht sein«, protestierte Viktor, während Michael bereits Anstalten machte weiterzugehen.
»Vielleicht ist sie ja mit einem anderen Boot gekommen, obwohl ich das auch nicht glaube. Davon hätten wir was mitbekommen. Wie sagten Sie, heißt die Frau?«
»Spiegel, Anna«, wiederholte Viktor und sah, wie Michael den Kopf
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