Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
trank auch und aß hin und wieder. Und ich schlief manchmal sogar ein bis zwei Stunden am Tag. Aber ich existierte nicht mehr. Ich starb an dem Tag, an dem Josephine verschwand.
Er musste diese Zeilen zweimal lesen und war sich selbst dann noch nicht völlig sicher, ob das wirklich real war, was er las. Dies war nicht irgendeine von Annas Geschichten. Das war sein Interview. Seine erste Antwort auf die Fragen der Illustrierten Bunte .
Viktor überlegte zuerst, wie Anna an seine Aufzeichnungen gelangt sein konnte, als er sich daran erinnerte, dass nahezu die gesamte Festplatte seines Computers gelöscht worden war. Sie musste einen unbeobachteten Moment – vielleicht gestern, während er schlief – dazu benutzt haben, seine gesamten Daten zu stehlen.
Aber warum machte sie sich die Mühe und schrieb die Seiten handschriftlich ab? Warum druckte sie die Antworten nicht einfach aus? Warum diese Unmengen mit einem Kugelschreiber beschriebener Blätter? Und was war das für eine merkwürdige Handschrift, die eher maskulin aussah und so gar nicht zu der kleinen, zierlichen Frau passen wollte? Doch Halberstaedt? Nein, der Bürgermeister war nie in seinem Haus gewesen. Hatte keinen Zugang zu seinen Daten.
Hastig blätterte Viktor die Seiten durch und stellte fest, dass Anna tatsächlich alles eigenhändig kopiert haben musste. Jede Frage. Jede Antwort. Wort für Wort. Satz für Satz. Alles, was er bisher getippt hatte.
Er sah zur Seite auf den eingeschalteten Laptop. Derselbe Vajo, auf dem er auch arbeitete. Dasselbe Modell. Viktor griff nach der Touchscreenmouse, um den Microsoft-Bildschirmschoner verschwinden zu lassen. Er wollte – nein, er musste sehen, woran Anna zuletzt gearbeitet hatte.
Mit einem Klick öffnete sich ein Word-Dokument, und Viktor sah sofort, worum es sich handelte. Es waren die Original-Fragen der Bunte -Redaktion. Haargenau dieselbe E-Mail, die ihm die Chefredaktion geschickt hatte.
Viktor blickte wieder vom Computer hinüber auf den Stapel Papier. Er wusste: Es war theoretisch möglich, dass Anna seine Daten gestohlen und vielleicht sogar in Berlin seine Akte entwendet hatte. Aber sie war erst gestern Abend bei ihm gewesen. Und das in einem extrem schlechten körperlichen Zustand. Ihr war also nur sehr wenig Zeit geblieben, um mit ruhiger Hand seine Ausführungen abzuschreiben.
Konnte das möglich sein?
Wieder stieg eine Erinnerung in Viktor auf, diesmal an eine der ersten Begegnungen mit Anna. Als sie im Regen den Weg zum Strandhaus zu Fuß zurückgelegt hatte. Trotzdem waren ihre eleganten Schuhe weder nass noch schmutzig gewesen.
Und der Zeitfaktor ließ ihm keine Ruhe. Dass sie in wenigen Stunden so viel geschrieben haben sollte. Zumal ihm der Stapel viel dicker vorkam als das, was er selbst in den letzten Tagen in seinen Laptop getippt hatte.
Viktor zog die untersten zwei Seiten aus dem Packen hervor und hielt die Luft an. Tatsächlich. Das hatte er nicht geschrieben. Der Wahnsinn bei Anna war anscheinend noch ausgeprägter, als er ohnehin schon zum Vorschein gekommen war. Anna hatte ihn nicht nur kopiert, sondern seine Aufzeichnungen mit ihren eigenen Worten ergänzt.
Viktor las:
Ich fühle mich schuldig am Tod meiner Tochter. Und ich fühle mich schuldig, dass meine Ehe zerbrochen ist. Es gibt viele Dinge, die ich anders machen würde, könnte ich jetzt noch einmal von vorne beginnen.
Wie habe ich Isabell nur so betrügen können?
Er starrte fassungslos auf die Zeilen. War das der Beweis für eine Verschwörung zwischen Anna und Isabell? Aber warum? Mit welchem Ziel? Von Sekunde zu Sekunde schien alles nur noch verworrener zu werden, anstatt dass endlich einmal Licht in das Dunkel kam und der Sturm sich legte.
Ohne die Schritte auf dem Fußboden hinter sich zu bemerken, blätterte Viktor um und las weiter:
Ich hätte mehr auf meine Frau hören sollen. Sie war es, die immer die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Wie konnte ich damals nur denken, sie wäre gegen mich? Wie habe ich mich von ihr abwenden können? Jetzt, zu spät, sehe ich, wie falsch es war, ihr die Schuld an allem zu geben, was mit Josy passiert ist. Und in welche Gefahr ich unsere Tochter genau dadurch gebracht habe.
Viktor las die letzten beiden Sätze immer und immer wieder. Sie hätten auch auf Chinesisch verfasst sein können, er hätte ihre Bedeutung genauso wenig entschlüsseln können. Er überlegte, ob er sich einfach den Stapel greifen und das Haus sofort verlassen sollte.
Doch dafür war es
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