Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
mit dem Verschwinden Ihrer Tochter zu tun habe? Sie haben es nicht begriffen, nicht wahr? Sie haben es tatsächlich nicht begriffen.«
Bei den letzten Sätzen war Anna auf einmal wieder völlig ruhig geworden. Jegliche Strenge und Härte war aus ihrem Gesicht gewichen, und sie glich plötzlich wieder der hübschen jungen Frau in dem altmodischen Kostüm, die Viktor vor einigen Tagen kennen gelernt hatte.
»Also gut«, fuhr sie fort und lächelte ihn an. »Dann hilft es wohl nichts, und wir beide müssen noch einen Schritt weiter gehen.«
»Was haben Sie vor?«
Unbändige Angst schnürte Viktor die Kehle zu. Er bekam kaum noch Luft zum Atmen.
Ein letzter Schritt?
»Kommen Sie zu mir, und schauen Sie nach draußen!«
Anna deutete mit dem Messer auf das Fenster zur Straßenseite. Viktor folgte ihrem Befehl und sah nach draußen.
»Was sehen Sie?«
»Ein Auto. Einen Volvo.«
Viktor zögerte beim Sprechen. Zum einen waren Privatautos auf der Insel nicht erlaubt, zum anderen entsprach das Fahrzeug haargenau dem Modell, das er auf dem Parkplatz in Sylt hatte stehen lassen.
»Komm schon!« Anna stand bereits an der Tür.
»Wohin?«
»Wir machen eine Spritztour. Unser Fahrer wartet.«
Tatsächlich sah Viktor, dass irgendjemand bereits hinter dem Steuer saß und den Motor angelassen hatte.
»Und was, wenn ich hier stehen bleibe?«, protestierte Viktor und sah Anna fest in die Augen.
Ohne ein Wort zu sagen, griff Anna in die Tasche ihres Mantels und zog die Pistole hervor, die Viktor noch vor wenigen Minuten auf dem Schreibtisch von Halberstaedt gesucht hatte.
Resigniert fügte er sich in sein Schicksal und ging langsam auf die Haustür zu.
50. Kapitel
D as Innere des Volvos roch nach frisch eingefettetem und mit Bienenwachs poliertem Leder. Viktor war so überwältigt von den Erinnerungen an seinen eigenen Wagen, dass er für einen Augenblick die Gefahr vergaß, in der er sich befand. Dieses Auto entsprach exakt dem Modell, mit dem er vor drei Wochen ans Meer gefahren war. Es war genau so ausgestattet. Alles war ihm so vertraut. Und obwohl es praktisch völlig unmöglich war, hätte Viktor schwören können, dass jemand bei diesem Unwetter seinen eigenen Wagen von Sylt nach Parkum eingeflogen hatte.
»Was soll das Theater?«, fragte er sowohl Anna, die rechts neben ihm auf der Rückbank Platz genommen hatte, als auch den unbekannten Fahrer, den er nur schemenhaft wahrnehmen konnte, da er direkt hinter ihm saß.
»Wie ich schon sagte. Wir machen eine Spritztour.« Anna klatschte in die Hände, und der Volvo setzte sich sanft in Bewegung.
Wo immer wir auch hinfahren, dachte Viktor, weit kann es nicht sein. Die Insel hat nur zwei Straßen. Spätestens in sechs Minuten sind wir am Leuchtturm, und dann müssen wir umdrehen.
»Wohin soll es denn gehen?«
»Das wissen Sie doch ganz genau, Viktor. Sie müssen nur noch eins und eins zusammenzählen, und dann haben Sie die Lösung.« Der Wagen nahm Geschwindigkeit auf, und obwohl der Regen mit unglaublicher Wucht auf die Windschutzscheibe herunterprasselte, machte der Fahrer keine Anstalten, die Scheibenwischer anzuschalten.
»Hier, lesen Sie das!« Anna reichte Viktor drei weitere Seiten, dicht von Hand mit blauem Kugelschreiber beschrieben. Offenbar stammten sie auch aus ihrer Feder, und Viktor schwante Übles.
»Was ist das?«
»Das letzte Kapitel über Charlotte. Der Schluss. Das ist es doch, was Sie lesen wollten.«
Irritiert sah er, dass die Seitenränder der Blätter leicht verkohlt waren. Als ob Anna die Zeit zurückgedreht und sie gerade noch rechtzeitig wieder aus seinem Kamin geholt hätte.
»Lesen Sie!« Anna pochte mit dem Pistolenknauf auf die Seiten, und er warf einen ersten Blick darauf.
Die Flucht
»Wieso können Sie mir nicht einfach erzählen, was …«
»Lesen Sie!«, unterbrach sie ihn wütend, und er begann zögernd mit den ersten Sätzen:
Die Nacht im Hyatt Hotel war grauenhaft. Charlotte hatte ununterbrochen Nasenbluten, und wir mussten den Zimmerservice um frische Laken und Handtücher bitten. Ich hatte keine Medikamente mehr, aber Charlotte bat mich, sie nicht alleine zu lassen, um welche zu holen. Deshalb konnte ich nicht selbst zur Nachtapotheke laufen.
Als sie endlich eingeschlafen war, wollte ich nicht riskieren, sie zu wecken, indem ich den Portier nach Paracetamol und Penicillin schickte. Sein Klopfen an unserer Zimmertür hätte Charlotte sicherlich wieder aus dem Schlaf gerissen.
Ein Ruck ging durch den Wagen, als der
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