Die Tiefen deines Herzens
letztendlich doch vorzeitig für Hamburg entschieden hatte. Einmal direkt, nachdem ich aus England zurück war. An einem Samstagnachmittag. Meine Eltern waren zusammen zum Großeinkauf gefahren. Ich hatte auf der Terrasse gesessen, das Bein auf einem zweiten Gartenstuhl hochgelegt, als es an der Haustür geklingelt hatte.
Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, bis ich zur Tür gehumpelt war, und da war Felix schon im Begriff gewesen, wieder zu gehen.
Als er sich zu mir umdrehte, war ich in Sekundenschnelle dunkelrot angelaufen.
»Ich dachte, es ist keiner da«, hatte er erklärt und mich dabei ein wenig angelächelt.
»Doch, doch«, hatte ich gestammelt. Ganz aufgeregt, mit schweißnassen Händen. »Ich bin da.«
Im nächsten Moment war ich mir so blöd vorgekommen. Dass ich da war, das konnte er ja schließlich selbst sehen.
»Wie geht es dir?«
»Ähm … gut, ich meine, mein Bein schmerzt kaum noch.« Ich hatte gestockt. »Möchtest du … möchtest du vielleicht reinkommen?«
Viel zu hoffnungsvoll hatte sich meine Stimme dabei angehört. Und Felix hatte auch prompt abgewinkt. »Nein, nein.«
»Schade«, hatte ich gemurmelt und war nicht in der Lage gewesen, ihm weiter in die Augen zu blicken.
»Ich wollte mich nur erkundigen, ob es dir gut geht.«
Ich hatte genickt. »Ja – es geht schon … irgendwie.«
»Es tut mir leid, was dir passiert ist. Ich meine nicht nur das mit deinem Bein.«
Wieder hatte ich genickt und dann hatte Felix auf einmal geseufzt. Ganz schwer. Ganz tief. »Ich wünsche dir alles Gute, Leni.«
Dann war er gegangen.
Später hatte ich ihn noch ein paarmal flüchtig gesehen, wenn er seinen Vater am Wochenende besuchte.
Im November waren wir uns dann zum letzten Mal begegnet. Er war gerade im Begriff gewesen, in sein Auto zu steigen, als Geena und ich in unsere Straße einbogen. Ich wäre gern zu ihm hingelaufen. Hätte ihn wie früher angegrinst und gegen den Oberarm geknufft, nur damit er sich erinnerte. An unsere Freundschaft erinnerte.
Aber er hatte den Wagen gestartet und war losgefahren.
Fast war er an uns vorbei, als er seine Hand plötzlich doch noch zum Gruß hob. Ich meinte sogar, den Anflug eines Lächelns um seine Mundwinkel entdeckt zu haben.
Es machte mich noch immer traurig, ihn zu sehen. An ihn zu denken. Ihn als meinen Freund verloren zu haben.
Felix fehlte mir schrecklich und dennoch bereute ich nichts. Inzwischen hatte ich meine Erlebnisse in England so weit verarbeitet, dass ich daran zurückdenken konnte, ohne mir ständig selbst Vorwürfe zu machen, warum ich so oder so gehandelt hatte.
Es war Schicksal gewesen, hatte Geena gesagt. Alles ist Schicksal, Leni. Nichts geschieht einfach nur so. Und seinem Schicksal, dem kann man nicht entrinnen. Man kann es nicht beeinflussen .
Nein, ich hatte mich nicht gegen diese unglaubliche Anziehungskraft, die Marc auf mich ausgeübt hatte, wehren können. Und mittlerweile hatte ich das akzeptiert, wollte das Vergangene nicht mehr ungeschehen machen. Denn die Momente, die ich mit Marc gehabt hatte, die schönen, die innigen, die leidenschaftlichen, die wollte ich nicht missen und schon gar nicht aus meiner Erinnerung streichen.
Die letzten Tage, die furchtbare Zeit in dem Haus hingegen, waren in meiner Erinnerung beinahe verblasst, hatten ihre Schrecken verloren.
Es klopfte an meiner Tür und kurz darauf streckte meine Mutter ihren Kopf ins Zimmer.
»Leni, hast du es gar nicht gesehen?«, wunderte sie sich.
Ich hob verständnislos die Schultern. »Was?«
Sie lachte. Hell und wie befreit. Auch etwas, das sich geändert hatte. In letzter Zeit hörte ich sie viel häufiger lachen. Mein Vater hatte erst neulich zu mir gesagt, dass er fand, Mama sei viel lockerer geworden.
Okay, Lockerheit war nach wie vor sicher keine Stärke meiner Mutter, aber doch, es gab hin und wieder Augenblicke, da war sie richtig gut drauf.
Dieser war so einer.
»Nee, nee«, ulkte sie kopfschüttelnd herum. »Da schneit es seit langer Zeit endlich mal wieder, ich meine, so richtig, und was macht mein Mädchen? Hockt mit zugezogenen Gardinen in ihrem Zimmer und kriegt nichts mit.«
Mit drei Schritten war ich am Fenster und zog die Vorhänge zur Seite.
»Wahnsinn!«, rief ich begeistert. »Wo kommt denn plötzlich der ganze Schnee her? Das gibt es doch gar nicht.«
Unser Garten war von einer zwar noch dünnen, aber eindeutig weißen Schneedecke überzogen. Und die vielen dicken Flocken, die vom Himmel segelten, ließen erahnen, dass die
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