Die Tiefen deines Herzens
nach dem er sein Leben lang gesucht hat.«
Und ich fand, das war ein guter Gedanke. Ein sehr guter Gedanke. So wollte ich mich an Marc erinnern. Wie er den Engeln Will you still love me tomorrow vorsang und sie mit verklärtem Blick an seinen Lippen hingen, so wie ich damals in der Himmel & Meer Lounge auf Usedom.
Inzwischen waren Herbstferien. Ich durfte mein Bein wieder vollständig belasten und hatte beschlossen, eine Ferienwoche bei Clara und Jamie zu verbringen.
Zusammen mit Geena, die mir in den letzten Wochen so sehr zur Seite gestanden hatte. An deren Schulter ich mich stundenlang hatte ausheulen können. Die mir ohne Unterlass über den Kopf und den Rücken strich. Sich tausendmal die ewig gleichen Geschichten anhörte – wie ich Marc kennengelernt und irgendwann für ihn geschwärmt hatte. Die guten Erinnerungen an ihn. Und die mit mir immer wieder Marcs Musik lauschte. Und der ich ständig die Frage nach dem Warum stellte, die sie mir nicht beantworten konnte, weil es darauf einfach keine Antwort gab.
»Es war wohl einfach Schicksal«, hatte sie einmal gemeint, während sie nachdenklich den Nagellack von ihrem Daumen pulte.
»Schicksal?«
Geena hatte genickt.
»Du meinst, dem Schicksal kann man nicht entkommen?«
Sie hatte eine Weile überlegt, bevor sie mit einer Gegenfrage reagiert hatte: »Wenn du dein Schicksal ändern könntest, würdest du es tun, Leni?«
Ich saß mit Clara im Innenhof in unserem Lieblingsstrandkorb, in warme Decken eingekuschelt, jede eine dampfende Tasse Tee in den Händen. Jamie war schon im Boxcamp. Geena mit Sammy am Strand spazieren.
»Weißt du«, sagte ich zu Clara und brachte den Satz dann doch nicht zu Ende.
Clara sah mich aufmerksam an und zog die Nase kraus. Die Sommersprossen hüpften auf und ab. »Was sollte ich wissen?«
Langsam beugte ich mich vor und setzte meine Teetasse auf dem kleinen Beistelltisch ab.
»Geena hat mir neulich eine Frage gestellt, die mich seitdem nicht mehr loslässt.«
»Welche?«
Ich sog die Luft tief ein und stieß sie mit einem Seufzer wieder aus. »Sie hat mich gefragt, ob ich mein Schicksal verändern würde, wenn ich es könnte.«
»Und, würdest du?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn Marc dann noch leben würde, bestimmt. Aber wenn ich ihm dadurch niemals hätte begegnen können, dann vielleicht auch nicht. Klingt ziemlich egoistisch, oder?«
Clara schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich. Damals, nach dem Tod meiner Eltern, hätte ich Ilona dankbar sein müssen, dass sie meinetwegen alles aufgegeben hat, nur damit ich nicht ins Heim musste. Aber dann hat sie mich so vereinnahmt, wollte mir ihre Lebensweise, ihre Sicht der Dinge aufzwingen. Ich hatte Angst zu ersticken, wenn ich bei ihr bleiben würde. Ich bin dann einfach abgehauen, obwohl ich wusste, dass ich ihr damit schrecklich weh tue.«
Sie stockte, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und fuhr mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen fort: »Ich habe mir so oft gewünscht, es rückgängig machen zu können. Doch wenn ich damals nicht gegangen wäre, dann hätte ich niemals diese unbeschwerte Zeit in London erleben können und letztendlich auch Jamie nicht kennengelernt. Du siehst, ich sitze, was das Schicksal betrifft, ebenso zwischen zwei Stühlen wie du.«
Ich grübelte einen Moment über das nach, was Clara gesagt hatte. »Dann sind unsere Schicksale eng miteinander verbunden. Ich meine, wenn du damals nicht abgehauen wärst, dann hättest du Jahre später auch nicht versucht, über mich wieder Kontakt zu deiner Schwester zu bekommen …«
Clara nickte. »… und wenn ich dich nicht nach Usedom gelockt hätte, dann hättest du Marc nie kennengelernt.«
Wir blickten uns lange an. Schweigend. Bis ich mich leise räuspern musste, weil da plötzlich ein dicker Kloß in meinem Hals feststeckte.
»Das wäre schlimm gewesen«, sagte ich. Und nach einem weiteren Räuspern fügte ich im Flüsterton hinzu: »Ich würde mein Schicksal nicht verändern.«
Nun stellte auch Clara ihren Teebecher ab. Sacht strich sie mir über die Wange. »Du hast ihn wirklich sehr geliebt, hm?«
Ich schloss die Augen, rieb mir mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel und dachte nach. Und als ich mir sicher war, ganz sicher, da öffnete ich die Augen wieder. Tränen schwammen darin.
»So sehr, wie man als unerfahrene Siebzehnjährige dazu fähig ist. Mit allen Höhen, Tiefen, Irrungen und Wirrungen. Eben das volle Programm.«
Clara zog mich in ihre Arme und nun
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