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Die Tiefen deines Herzens

Die Tiefen deines Herzens

Titel: Die Tiefen deines Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Szillat
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konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten.
    »Weißt du, Clara«, schniefte ich, »egal, was passiert ist, Marc wird für immer einen festen Platz in meinem Herzen haben.«
    Sie strich mir tröstend übers Haar. »Das kann ich verstehen, Leni.«
    Nun weinte ich hemmungslos in Claras Armen und sie ließ mich gewähren, streichelte meinen Kopf, meine Schultern, meinen Rücken. Eine lange, lange Zeit ließ sie mir, um Marcs Tod endlich auch in ihren Armen zu betrauern – und mich von ihm zu verabschieden.
    Und als meine Schultern langsam zu beben aufhörten, da sagte sie: »Weißt du, meine kleine, große wunderbare Leni, Marc war auch mir manchmal fremd. Schon als er noch klein war …« Sie brach ab, schien sich in ihren Erinnerungen zu verlieren. Doch schließlich fuhr sie leise fort: »An schlechten Tagen, in bitteren Momenten, da war er fast ein Fremder für mich. So zynisch, so rücksichtslos. Ein Mensch, der gegen seine inneren Dämonen anzukämpfen versuchte. Ich wusste nie, was in ihm vorging, wenn er so war, wenn er sich selbst nicht mochte, sich kaum ertragen konnte. Aber weißt du, was das Schlimmste für mich ist? Jetzt, wo es zu spät ist?«
    Ich trocknete mir mit dem Handrücken die Augen und die Nase. »Nein«, wisperte ich.
    Clara atmete tief durch. »Ich habe ihn nie danach gefragt.«
    »Und?«, fragte Jamie mich, als ich mich nach dem Gespräch mit Clara zu ihm an den Tisch setzte.
    Es war noch nichts los in der Pension. Jamie war zur Mittagszeit immer Claras erster Gast, hockte lange vor den Urlaubern am Tisch und genoss es, Clara in der Küche herumhantieren zu hören und sich von ihr bedienen zu lassen, wie er sie gern augenzwinkernd aufzog.
    »Was hat dich denn so früh hierher verschlagen? Knurrt dein Magen etwa schon?«
    »Hm«, machte ich. »Du bist der Grund!«
    Jamie schaute mich erstaunt an. »Ich, warum ich? Hast du mich heute Vormittag so sehr vermisst?« Doch ich konnte ihm ansehen, dass er wusste, wovon ich sprach.
    »Clara hat mir erzählt, dass du etwas für mich hättest«, sagte ich ruhig.
    Plötzlich wirkte er müde. Er rieb sich die Augen und blickte dann wie in Gedanken versunken auf die Tischplatte.
    Ich beugte mich ein wenig vor. »Ich muss es wissen, Jamie«, redete ich beschwörend auf ihn ein.
    Er hob den Kopf und musterte mich.
    »Clara meinte, ich müsste ihn dir geben«, sagte er nach einer Weile. »Aber ich glaube nicht, dass das gut ist, Leni.«
    »Ich komme mit allem klar«, versicherte ich ihm. »Nur nicht mit Lügen.«
    Jamie schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um Lügen oder Wahrheiten. Ich möchte dir nicht wehtun.«
    »Jamie …«, setzte ich an. Aber er unterbrach mich.
    »Verdammt! Er war wie ein Sohn für mich und du, du bist wie eine Tochter für mich … Wenn ich ihn schon nicht beschützen konnte, dann wenigstens dich … Versteh das doch!«
    »Na klar tue ich das«, gab ich zurück. »Aber bitte versuch auch, mich zu verstehen. Ich muss die Wahrheit wissen. Hat Marc einen Brief für mich …« Ich hielt inne, atmete noch einmal tief durch und sprach kaum hörbar weiter: »… hinterlassen?«
    Jamie zuckte kaum merklich zusammen, als sich Claras Hand von hinten auf seine Schulter legte. Ich hatte sie schon einen Moment zuvor im Türrahmen stehen sehen. »Gib ihr den Brief, Jamie. Sie ist bereit dafür. Außerdem ist sie ja nicht allein damit.«
    Ohne sich nach ihr umzudrehen, erhob er sich und verließ schweigend den Speisesaal.
    Ich warf Clara einen ratlosen Blick zu. Doch sie nickte mir aufmunternd zu. »Er holt ihn. Da bin ich mir sicher.«
    Wenige Minuten später kam Jamie zurück. In den Händen hielt er einen weißen Umschlag.
    Bevor er ihn mir gab, sagte er mit belegter Stimme: »Er hat ihn kurz vor seinem Tod geschrieben. Der Notarzt hat ihn in seiner Jackentasche gefunden. Du weißt, was das bedeutet …«
    Ich nickte. »Es war kein Unfall«, brachte ich mühsam beherrscht hervor. Ich streckte die Hand nach dem Brief aus. »Bitte gib ihn mir, Jamie.«
    Er nickte langsam und reichte ihn mir.
    Als ich unseren Platz am Strand unweit des Küstenwalds erreicht hatte, holte ich den Brief aus meiner Jackentasche.
    Der Umschlag war ein wenig zerknittert. Mit Daumen und Zeigefinger strich ich ihn wieder glatt. Sanft fuhren meine Finger über das weiße Papier, über die zwei blauen Wörter – Für Leni.
    Meine Finger zitterten leicht, als ich ihn öffnete und ein zweimal gefaltetes Blatt, das auf Vorder- und Rückseite mit blauer Tinte

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