Die Tiefen deines Herzens
Jérôme.
»Mahlhausen.«
»Ach nee«, sagte er und lächelte verschmitzt.
»Was ist?« Irritiert strich ich mir eine lange dunkle Strähne aus dem Gesicht.
»Da wohne ich zurzeit auch«, erklärte Jérôme.
»Wo denn genau?«, fragte ich überrascht. »Ich hab dich bisher noch nie dort gesehen.«
Was einem Wunder nahekommt bei 532 Einwohnern, fügte ich in Gedanken hinzu.
»Richtung Tönisberg. Das letzte Haus vorm Waldrand. Ist so ’n kleiner Hof.«
»Ach, da bin ich mal dran vorbeigeritten. Hab mich schon gefragt, wer dort wohl lebt.«
Schlagartig verdunkelte sich Jérômes Gesicht. So als ob jemand die Vorhänge zugezogen hätte. »Na, jetzt weißt du’s ja«, sagte er knapp.
Was war denn mit dem auf einmal los? Hatte ich was Falsches gesagt?
Na, dann eben nicht, dachte ich und kramte mein Geschichtsbuch hervor. Ich schlug es auf und versuchte, mich auf den Text über das Zeitalter des Imperialismus zu konzentrieren.
»Hausaufgaben?«, hörte ich Jérôme nach einer Weile vorsichtig fragen.
»Sieht ganz so aus«, brummte ich.
»Wenn du Hilfe brauchst … Ich hab in der Zehnten ein Referat darüber gehalten. Das ist noch irgendwo auf meinem Rechner.«
»Schön für dich.« Ich schaute nicht auf. »Aber ich denke, ich schaff’s auch allein.«
Für den Rest der Fahrt herrschte Funkstille zwischen uns. Erst als der Bus in Mahlhausen anhielt, ich hektisch mein Buch in die Tasche warf und vom Sitz aufsprang, unternahmJérôme einen erneuten Versuch. »Du kannst es dir ja noch mal überlegen.«
Langsam drehte ich mich zu ihm um. »Was?«
»Die Sache mit dem Referat. Mein Angebot steht.«
Einen Moment schaute ich ihn an, bevor ich gleichgültig mit den Schultern zuckte. »Danke«, sagte ich und wandte mich ab.
So schnell wie möglich verließ ich den Bus und drehte mich kein einziges Mal zu Jérôme um.
Als ich das Auto meiner Mutter auf dem Hof entdeckte, atmete ich erleichtert auf. In ein leeres Haus zu kommen, war so ziemlich das Letzte, was ich nach dem Vormittag gebrauchen konnte.
Ich drückte auf den Klingelknopf. Von drinnen erklangen Schritte, dann wurde die Tür geöffnet und das Gesicht meiner Mutter tauchte im Türrahmen auf.
»Hi, mein Schatz. Hast du deinen Schlüssel vergessen?«
»Nö, ich hatte keine Lust, in meiner Tasche zu wühlen«, gab ich zu.
Claudia hob die Augenbrauen und musterte mich skeptisch. »Nicht so gut gelaufen, dein erster Tag, was?«
Ich nickte und kaute auf der Unterlippe herum.
»Das wird schon, Anna. Der erste Tag ist immer irgendwie doof.« Claudias Stimme klang sanft. Sie nahm mich in die Arme und strich mir zärtlich über den Kopf.
So blieben wir eine Weile stehen. Schließlich löste ich mich aus der Umarmung, räusperte mich leise und sagte mit betont heiterer Stimme: »Du hast sicher recht. Und wie war dein Vormittag?«
Meine Mutter seufzte tief. »Kommt ganz darauf an, wie man es betrachtet. Eigentlich wollte ich mindestens ein Kapitelschaffen. Aber dann bin ich in den Stall gegangen und habe Rashun und Maschagar auf die Weide gelassen. Darüber habe ich irgendwie die Zeit vergessen … zum Schreiben bin ich dann gar nicht mehr gekommen.«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Das wird schon, Claudia.«
Sie knuffte mich in den Oberarm. »Du sollst dich nicht dauernd über deine inkonsequente Mutter lustig machen!«
»Das würde ich doch niemals tun«, erklärte ich noch immer grinsend, »aber es ist schon Wahnsinn, was für ein Aufwand betrieben wurde, damit du endlich ungestört schreiben kannst. Und dann sitzt du bei den Pferden herum und träumst.«
Schlagartig wurde Claudia ernst. »Du bereust den Umzug schon, stimmt’s?«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Im Moment kam es mir wirklich wie ein Riesenfehler vor, dass ich den Plänen meiner Eltern zugestimmt hatte.
»Wenn wir in Bremen mehr oder weniger unsere Zelte abbrechen, dann nur, wenn jeder von uns hundertprozentig dahintersteht«, hatte mein Vater erklärt, und ich war mir sicher, dass er es genauso gemeint hatte. Damals hatte ich eingewilligt. Aber da hatte ich mir das Leben auf dem Land auch noch ganz anders vorgestellt. Bevor meine Eltern den Kaufvertrag für den kleinen Resthof unterschrieben hatten, war mir das Ganze hier viel freundlicher und verlockender vorgekommen. Endlich die Pferde am Haus. Nicht mehr jeden Tag mit der Straßenbahn in den fünf Kilometer entfernten Reitstall fahren. Ausreitgelände so weit das Auge reichte … Hier ging es
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