Die Time Catcher
nacheinander die etwa hundert Leute, die vor dem Eingang Schlange stehen. Noch nichts von Ben, Jim oder Diane oder meinem früheren Ich zu sehen.
Ich hole tief Luft und gehe näher heran. Als ich mich bis auf sechs Meter genähert habe, sehe ich sie plötzlich.
Sie stehen genau am Ausgang. Diane schreibt etwas auf ein Stück Papier. Als sie meinem früheren Ich den Zettel geben will, hebe ich die Hände. Dann schüttelt mein früheres Ich Ben die Hand, dreht sich um und schlendert davon.
Ich gehe in die Hocke, weil ich nicht von mir selbst entdeckt werden will.
Mein früheres Ich steuert eine Toilette an. Der Arme weiß noch nicht, dass er gleich ein sehr unangenehmes Zusammentreffen mit Mario erleben wird.
Ich warte eine weitere Minute und jogge am Maschendrahtzaun entlang, bis ich die Rampe am Ausgang erreiche, an der sich Jim und Diane über eine Karte des Vergnügungsparks beugen.
»D a bin ich wieder«, sage ich.
Alle blicken gleichzeitig auf.
»C aylid! Hast du deinen Onkel gefunden?«, fragt Ben. »U nd hat er dir erlaubt, mit mir Wasserbahn zu fahren?«
»J a, habe ich«, antworte ich. Was nicht einmal gelogen ist. Ich habe ihn ja gerade erst gesehen, wenn auch ganz anders, als Ben meint. »U nd ich darf mit dir zu La Spitoon gehen.«
»J ippie!«, ruft Ben aus. »C aylid kommt mit, Mom, zu La Spi…«
Dann funkeln seine Augen. »D as heißt Pitoune, nicht Spitoon, Caylid, aber egal, Hauptsache, wir gehen hin.«
Ich lächle, obwohl sich mir der Magen zusammenzieht. Vielleicht sollte ich noch ein bisschen länger mit ihnen hierbleiben. Oder sie zu einem anderen Ort auf der Expo führen, der weit von La Pitoune entfernt ist. Doch habe ich in Gedanken alles schon ein Dutzend Mal durchgespielt. Ben wäre nie damit einverstanden. Nicht an seinem Geburtstag. Ich habe keine andere Wahl, als sie zu La Pitoune zu begleiten und zu verhindern, dass Ben von Mario entführt wird.
Am Eingang zu La Pitoune sieht man ein großes Gemälde, auf dem ein Kanu durch die Luft fliegt. Die drei Männer darin haben panische Gesichter, doch mein Blick wird automatisch von der grinsenden Teufelsfratze, die sich hinter ihnen erhebt, in Bann gezogen. Ich blicke mich suchend um, kann Abbie aber zunächst nicht finden. Doch als ich das zweite Mal meinen Blick schweifen lasse, sehe ich sie nur wenige Meter vom Ausgang des Fahrgeschäfts auf einer Bank sitzen und in einer Ausgabe von Was gibt es heute auf der Expo? blättern.
Zentimeter für Zentimeter schiebt sich die Schlange vorwärts. Da Ben zu klein ist, um einen Überblick zu haben, muss ich ihn in einer Tour darüber informieren, wie viele Leute noch vor uns sind. Zugleich halte ich ständig Ausschau nach Mario.
Schließlich stehen wir ganz vorne. Ich steige neben Ben in den Wagen und schnalle uns beide an. Vielleicht ist das eine schlechte Idee. Vielleicht sollte ich mich lieber zu den schwangeren Frauen gesellen, zu den Leuten mit Herzproblemen und kleinen Kindern, die am Rand stehen. Doch Ben zuliebe muss ich stark sein. Denn Phoebe sagte, dass es genau hier passiert ist.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Falls es mir nicht gelingt, den Verlauf der Geschichte zu ändern, wird Ben in sieben Minuten von Mario entführt werden.
Im Wagen vor uns sitzt ein Vater mit seiner kleinen Tochter. Hinter uns hilft ein älterer Mann seiner Frau beim Einsteigen. Gewöhnliche Touristen. Alle Leute um mich herum sehen vollkommen normal aus, was den Gedanken, Ben könne von hier entführt werden, umso seltsamer erscheinen lässt. Doch sosehr einem Phoebe manchmal auf die Nerven geht, so präzise sind ihre Auskünfte. Ich hole tief Luft und warte darauf, dass es losgeht.
Eine Mitarbeiterin geht von einem Wagen zum anderen und vergewissert sich, dass alle gut angeschnallt sind. Hinter mir gerät plötzlich etwas in Bewegung. Der ältere Mann ist seiner Frau beim Aussteigen behilflich und führt sie zu einer Bank nahe am Eingang. Sie sieht sehr blass aus.
Ich schließe meine Augen und versuche, mich zu entspannen, indem ich mir das Kloster mit seinem Garten im Central Park vorstelle. Aber es nützt nichts. Das Bild hat nur für wenige Augenblicke Bestand, ehe es sich vor meinem geistigen Auge in eine gigantische Achterbahn verwandelt.
Ich werfe Ben einen Blick zu. Er lächelt von einem Ohr zum anderen.
Abbie lässt mir eine Nachricht zukommen: In dem kleinen Wagen siehst du echt süß aus, Cale.
Danke, gebe ich zurück. Aber ich würde lieber ganz woanders echt süß aussehen.
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