Die Time Catcher
Caleb. Wenn die Geschichte mich amüsiert, werde ich den Jungen schonen und ihn nach Hause schicken. Wenn nicht, wird er hierbleiben und sein Training wieder aufnehmen.«
»N ein.« Meine Stimme ist fest und entschlossen. Ich verstärke meinen Griff um Bens Hand.
Für den Bruchteil einer Sekunde bröckelt Onkels Fassade und ein Anflug von Zorn füllt seine Augen. Dann hat er seine übliche gleichmütige Miene wiedergefunden. »N assim, würdest du die beiden bitte hierherüber bringen?«
»E r hat keine Macht mehr über dich, Nassim«, sage ich und werfe Onkel einen wütenden Blick zu. »D u brauchst nicht auf ihn zu hören.«
Für einen Moment ist alles still. Nassim steht reglos da.
»N assim«, wiederholt Onkel, der mich nicht aus den Augen lässt. »B ring sie zu mir!«
Doch Nassim rührt sich nicht vom Fleck.
Meine Augen bohren sich in die von Onkel. Ich spüre, wie meine Unterlippe zu zittern beginnt. Doch ich wage es nicht, den Blick abzuwenden.
»I st dir klar, was du da tust, Caleb?«
»J a«, antworte ich. »I ch tue das, was richtig ist.«
»D u hast mir alles zu verdanken!«, dröhnt seine Stimme. »W enn ich nicht gewesen wäre, wärst du als Kind in der Gosse verreckt. Ich habe dich zu mir genommen, als wärst du mein eigen Fleisch und Blut, habe dir zu essen und Kleidung gegeben und dir alles über die Welt beigebracht. Erinnerst du dich an unsere Ausflüge in den Zoo? Wir haben die bedeutendsten Museen und Galerien der ganzen Welt besucht.«
Er versucht, mich einzulullen. Ich muss stark bleiben.
»U nd weißt du noch«, spricht Onkel weiter, »d ass ich dir diesen Spielzeugsoldaten besorgt habe, den du mehr wolltest als alles andere auf der Welt?«
»I ch bin dir nichts mehr schuldig«, sage ich.
Seine Augen funkeln mich an, ehe er zu Nassim hinübersieht. »N assim, ich bin dein Meister. Auf Ungehorsam steht die Todesstrafe.«
Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie Nassim die Hand nach den Knöpfen des Fahrstuhls ausstreckt.
»D u bringst sie sofort zu mir!« Onkels Stimme ist schneidend. Er hebt sein Schwert.
Ich mache einen Hechtsprung, reiße Ben mit mir und schließe im selben Moment die Augen, in dem ein blauer Lichtstrahl von der Schwertspitze zuckt. Es riecht verbrannt. Jemand schreit auf. Die Tür des Lifts schließt sich.
Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich, dass Nassim neben Ben zusammengesunken ist. Der Lift fährt nach unten. In zwanzig Sekunden wird uns Mario unten in Empfang nehmen.
Nassim hält sich die Schulter. Blut sickert zwischen seinen Fingern hindurch und tropft auf den Stahlboden. Aus den Lautsprechern schallt Wiener Walzer.
»G ib mir die Hand, Nassim!«, rufe ich, um die Musik zu übertönen.
Doch entweder hört er mich nicht oder ist vor Schmerz wie paralysiert. Ich greife nach seiner riesigen Pranke und drehe die Handfläche nach oben. Ich habe niemals bei jemand anderem eine Sequenz einprogrammiert, doch höre ich Abbies Stimme in meinem Kopf. Nicht nachdenken, Caleb. Tu es. Hat sie tatsächlich Kontakt zu mir aufgenommen oder erinnere ich mich an früher?
Ich lege seinen Arm auf mein Knie und mache mich an die Arbeit. Der Wiener Walzer wird von dröhnender Marschmusik abgelöst.
Noch acht Sekunden.
Ich tippe weiter. Nassims Handgelenk ist kalt. Er atmet stoßweise.
Ben ist ein Häufchen Elend und wimmert vor sich hin. Ich nehme seinen Arm und ziehe ihn zu mir.
Drei Sekunden bis zum Erdgeschoss.
Ich schließe die Augen. Komm schon, verdammt! Warum funktioniert das nicht?
Die Musik ist jetzt ohrenbetäubend laut. Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten, doch muss ich mich um Nassim und Ben kümmern.
Der Aufzug bleibt ruckartig stehen. Mein Herz schlägt wie wild. Was passiert hier? Wir haben das Erdgeschoss noch nicht erreicht.
Eine Sekunde später kenne ich die Antwort. Wir setzen uns wieder in Bewegung.
Nein! Es geht nach oben!
Ich halte Nassims Handgelenk jetzt direkt vor meine Augen und gebe mit zitternden Händen erneut die Sequenz ein.
Nichts geschieht.
Jemand blockt die Daten ab. Dann weiß ich, woran es liegt. Die gusseisernen Träger des Hauses stören die Verbindung, wie auch im Hauptquartier.
Ich unternehme einen dritten Versuch.
Fehlgeschlagen.
Eine Schweißperle rinnt mir über die Stirn.
Noch zehn Sekunden bis zu Onkels Büro.
Noch zehn Sekunden, um Bens und mein Leben zu retten.
Zeit genug für einen letzten Versuch. Und wenn er scheitert? Nicht nachdenken. Handeln!
Ich nehme Bens kleines
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