Die Time Catcher
auf allen vieren zu ihr.
Sie hat recht. Der Ausblick ist wirklich großartig. Der Weg, der sich am Dorf vorbeiwindet, führt direkt in ein kleines Waldstück, kommt auf der anderen Seite wieder heraus und verliert sich in der Ferne zwischen den Hügeln.
Es regnet jetzt in Strömen. Wenn wir uns nicht bald auf die Reise machen, werden wir völlig durchnässt sein. Da es jedoch ein warmer Regen ist, macht mir das nicht viel aus. Außerdem ist es ein schönes Gefühl, nur mit Abbie hier oben zu sein, mit dem Diebesgut bereits in der Tasche.
In diesem Moment reckt sie ihre Hände theatralisch dem Himmel entgegen.
»D er Kirchturm erzittert unter den Schreien der Wanderer, verlustig ihres Geistes«, ruft sie, »w ährend hinieden die Rubine des Teufels ruhen, am stillem Meeresgrund so tief.«
Ich lächle sie von der Seite an und bemerke, wie nass sie bereits ist. Außerdem entgeht es nicht meiner Aufmerksamkeit, wie die nassen Kleider sich an ihren Körper schmiegen.
Und da wir schon beim Thema sind, fällt mir ebenfalls auf, wie anders ich ihren Körper in Erinnerung habe. Weniger kurvig … und weiblich.
Verwirrt und verlegen wende ich den Blick ab. Doch Abbie scheint all das nicht wahrzunehmen. Oder sie lässt es sich nicht anmerken.
Nach einer Weile seufzt sie und sagt: »A lso, ich wär dann so weit. Und du?«
»K lar«, antworte ich.
Ich erhasche einen letzten Blick auf Abbie, ehe sie ihr Handgelenk berührt und verschwindet.
Vor dem Zeitsprung lasse ich meinen Blick über den Horizont schweifen.
Der Regen lässt nach und der Himmel klärt sich allmählich auf.
Ich frage mich, ob wohl ein Regenbogen entstehen wird, aber darauf kann ich nicht warten. Nach einem leichten Klopfen auf mein Handgelenk lasse auch ich das Jahr 1826 weit hinter mir.
Ich lande genau dort, wo ich meine Reise begonnen habe – in der Gasse neben dem Hauptquartier. Abbie ist schon da und hat den Moment der Zeitstarre überwunden.
»I ch liefere schon mal das Objekt ab, okay?«, sagt sie zu mir. »I ch muss so schnell wie möglich meine nassen Klamotten loswerden.«
Ich grunze etwas Zustimmendes, weil mir die Zeitstarre noch immer den Mund verschließt. Als sie sich umdreht, versuche ich, ihr nicht nachzuschauen. Was bedeutet, dass ich versuche, sie nicht so anzustarren wie auf dem Hausdach in Frankreich. Warum fällt mir das so schwer? Es geht doch nur um Abbie. Schließlich sind wir in all den Jahren miteinander aufgewachsen – als sei sie meine Schwester.
Sobald die Zeitstarre nachlässt, folge ich Abbies Tropfspuren über den Bürgersteig bis zum Eingang des Hauptquartiers.
»H aben die jungen Leute heutzutage denn gar kein Benehmen mehr?«, ereifert sich Phoebe, als ich den Aufzug betrete. Sie tritt heute als kleine grauhaarige Frau in Erscheinung, die in einem riesigen Sessel förmlich zu versinken scheint. Sie strickt an irgendwas, doch ich kann nicht erkennen, woran.
»W ie meinst du das?«, frage ich.
»S ieh nur deine Schuhe an«, entgegnet sie und deutet mit einer Stricknadel auf meine Füße.
Ich schaue nach unten. Meine Stiefel stehen in einer kleinen Pfütze – ein Andenken aus Frankreich.
»O h, tut mir leid. Ich wisch das auf.«
»W ann?«
»I ch weiß nicht … in ein paar Minuten. Sobald du mich im Dritten rauslässt, schau ich mich nach einem Lappen oder so was um und komme gleich zurück.«
»U nd was soll ich in der Zwischenzeit machen?«, fragt sie. »D u bist schließlich nicht der Einzige, der diesen Aufzug benutzt. Ich habe immer viel zu tun, und wenn ich nicht komme, werden alle denken, dass ich einen kleinen Unfall hatte. Wie kannst du deiner Großmutter das nur antun?«
»D u bist nicht meine Großmutter, Phoebe. Du hast doch überhaupt keine Enkel.«
Sie verstummt und ich knirsche mit den Zähnen. Ob wahr oder nicht, die letzte Bemerkung hätte ich mir vielleicht verkneifen sollen.
»D u hast mich verletzt«, sagt sie erwartungsgemäß.
Ich muss bleiben und die Sache wieder ins Lot bringen. Sonst wird sie mich nie in den dritten Stock bringen. Ich frage mich, wie Abbie aus der Nummer rausgekommen ist. Sie war doch noch nasser als ich.
»A lso, was soll ich deiner Meinung nach tun? Den Boden mit meinem Ärmel aufwischen?«
»I st dein Ärmel trocken?«
Ich streiche mit den Fingern darüber. Von außen ist er immer noch ziemlich feucht, aber die Innenseite ist knochentrocken.
»S o halbwegs«, antworte ich.
Phoebe sieht von ihrem Strickzeug auf und lächelt mich großmütterlich an.
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