Die Time Catcher
mein Bett und taste so lange darunter entlang, bis ich das Stück Treibholz an meinen Fingern spüre. Es klemmt wie üblich zwischen dem Bettrahmen und der Matratze.
Ich habe dieses handtellergroße Holzstück vor drei Jahren auf einer Mission im kanadischen Tofino gefunden. Ich habe einmal gelesen, dass wahre Künstler keine vorgefertigte Idee im Kopf haben, wie ihre Skulptur einmal aussehen soll. Stattdessen versuchen sie, die wahre Gestalt des Steins oder Holzes – das, was sich unter seiner Oberfläche verbirgt – freizulegen. Ich betrachte mich selbst zwar nicht als Künstler, doch mir gefällt diese Vorstellung: Überflüssiges zu entfernen, um die eigentliche Gestalt eines Gegenstands zu ergründen. Es kostete mich ein ganzes Jahr, um die eigentliche Gestalt des Treibholzes, das ich gefunden hatte, zu erahnen. Inzwischen bin ich mir ziemlich sicher, dass sich darunter ein Gesicht verbirgt, die Frage ist nur, welches.
Es geht nur langsam voran, doch inzwischen kann man schon einen Teil der Nase und die Augen erkennen.
Ich drehe das Stück Holz in meinen Händen und betrachte es aus verschiedenen Blickwinkeln. Ich frage mich, ob es einen fröhlichen oder traurigen Ausdruck bekommen wird.
Während meine Finger über die raue Oberfläche streichen, erlaube ich meinem Körper und meinem Geist, sich zu entspannen. Mit ein bisschen Glück könnte ich bis zum Abendessen noch gute Fortschritte machen. Doch nach ungefähr einer Minute kann ich kaum noch die Augen offen halten.
Ich werde von Nassims Lautsprecherstimme geweckt.
»H allo, zusammen. In fünf Minuten gibt es Abendessen. Das Wort für diesen Abend lautet piào liàng, was übersetzt schön heißt. Jeder muss beim Abendessen einen Satz bilden, in dem dieses Wort vorkommt.«
Ich seufze. Onkel hat diesen Mandarin-Tick schon seit ungefähr einem Monat. Er ist davon überzeugt, dass es im Zuge der Großen Freundschaft zwischen den USA und China nur eine Frage der Zeit ist, wann Mandarin im Westen zur wichtigsten Sprache wird. Versteht mich nicht falsch. Ich lerne gern neue Sprachen. Aber muss das ausgerechnet während des Essens stattfinden?
Ich stapfe ins Badezimmer und wasche mein Gesicht. Ganz gleich, wie sehr ich den Hahn auch zudrehe, er hört nicht auf zu tropfen. »D er einzige Ort, an dem ein tropfender Wasserhahn piào liàng ist«, formuliere ich im Stillen, »i st in der Wüste.« Gar nicht so schlecht, aber ich zweifele, dass die anderen damit zufrieden sein werden.
Als ich den Aufenthaltsraum betrete, sind alle bereits anwesend – außer Onkel. Ich nehme meinen üblichen Platz zwischen Abbie und Raoul ein.
Abbie streicht mit einer Hand durch ihr Haar und lächelt mich an.
Lydia sitzt auf der anderen Seite neben Abbie. Sie mag diesen Platz, weil sie von dort aus ihr Spiegelbild im Fenster sieht. Sie macht sich ständig Sorgen darüber, dass nicht genug Spiegel in ihrer Nähe sind. Abgesehen von ihrer offensichtlichen Selbstverliebtheit ist Lydia mir ein ziemliches Rätsel. Sie lacht schallend über Marios dämliche Witze und vermutlich hat ihr genau das den Platz in seinem Team eingebracht.
Lydia gegenüber sitzt Raoul. Und mit dem Burschen habe ich wirklich Mitleid. Er will seine Sache gut machen, doch ihm fehlt einfach das Talent. Er ist nicht in der Lage, eine Situation richtig einzuschätzen und angemessen darauf zu reagieren, was uns allen zur zweiten Natur geworden ist. Außerdem neigt er dazu, Dinge fallen zu lassen, was ebenfalls keine sehr günstige Eigenschaft für einen Dieb ist. Als Johan noch sein Partner war, ist das nicht aufgefallen. Wahrscheinlich hat der ihn stets gedeckt. Doch ohne Johan sind seine Schwächen unübersehbar. Es ist allen ein Rätsel, warum ihn Onkel immer noch in seiner Nähe duldet.
»O nkel bittet darum, dass wir ohne ihn anfangen«, sagt Nassim, und sofort spüre ich, wie die Anspannung im Raum nachlässt.
»E r wird uns Gesellschaft leisten, sobald sein Termin mit einem Kunden beendet ist«, fährt Nassim fort, woraufhin die Spannung wieder ein bisschen zunimmt.
»C aleb, würdest du bitte das Gebet sprechen?«
Ich senke den Blick und schaue auf meinen Teller. Die Sache ist immer noch ziemlich neu für mich. Onkel kam vor ein paar Wochen mit dieser Idee, weil Studien angeblich belegten, dass sich das Sprechen eines Tischgebets sowohl auf den Körper als auch auf die Psyche positiv auswirkt. Aber gesund oder nicht, ich hasse das. Wir dürfen kein Gebet zweimal sprechen, und mit allen Variationen
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