Die Titanic und Herr Berg
Wetterbericht, der mir sagt, was ich selber sehe, im grauen Rock mit grauenhafter Bluse und bald grauen Haaren bei grauem Himmel, das muss zum Beispiel auch nicht sein.
«Fahren Sie in Urlaub, Herr Berg?» Ich nicke und hoffe, dass mir die Vorfreude nicht aus den Augen tränt.
«Mit den Kindern?»
Ich nicke wieder. Ihr Kinderlein kommet und quatscht mich voll mit eurem Schulkram. Eine Drei und sogar eine Zwei, naja nur in Sport. Da bekommst du ein Eis für, mein Sohn – geh vors Haus und brich dir einen gefrorenen Zapfen von der Dachrinne. Und gib deiner Schwester was ab, die nicht so viel Glück mit der Vererbungslehre hatte und nach eurer Mutter kommt, deshalb hat sie eine Fünf in Biologie. Meine kleine Linda, was warst du süß. Die verschmierten Tuschbilder und die kleinen Ohren. Sind so kleine Ohren, darf man nicht reinnölen.
«Mit den Kindern. Das ist schön!», sagt Frau Kobow. Ich nicke. Jetzt wird Linda schön, und es ist für sie das Wichtigste, dass es so ist. Die Haare, aber die Pickel. Die Brüste, aber die Haare. Die Pickel, aber die Schuhe. Sie ist dreizehn Jahre alt und manchmal schnattert sie schon von Diät.
«Sie können mir ja eine Karte schicken», sagt Frau Kobow.
«Wenn Sie mir auch schreiben», sage ich, und Frau Kobow lächelt sich die Birne weg. Ich rufe die nächste Nummer auf und versuch es auch mal mit Lächeln. Ich lächle, wie ich lächle, wenn ich lächle. Muss ja. Ich klemme eine Büroklammer, eine blaue, an einen Antrag. Der Kontoauszug fehlt. Ich gehe in die Mittagspause und rauche mich dumm. Zigaretten beeinträchtigen mich in eigentlich guten Sachen: Denken und Nachdenken und Gutriechen. Nicht nur die Gesundheit. Davon merke ich weniger. Ich muss morgens nicht husten. Muss ja nicht. Ich muss morgens immer nachdenken, dann doch echt lieber husten, aber nein, ich denke zum Beispiel, dass ich meinen Zustand als Atomansammlung lieber mit dem Gewebe der Zudecke tauschen würde. Ich möchte eine Zudecke sein und auf einer Frau liegen. Nicht auf einer wie Frau Kobow, lieber auf einer wie Tanja. Auf der liegt es sich gut, wenn ich mich recht erinnere. Ist eine Weile her. Am Wochenende ist sie nicht aufgetaucht. Das hat mich verstimmt. Ich bin ein altes Klavier, zu viel über die Dielen gezerrt. Wenn man eine Vase auf mir abstellt, klinge ich sofort schief. Ich kann Blumen nicht ab. Ich schreibe «Die Welt ist scheiße und kacke» auf Rosenblätter. Sags durch die Blume. Ich will jetzt nicht an Tanja denken. Der Hausmeister hat mich dann befreit, und ich fühlte mich frei. Freiheit ist das Einzige, was fehlt. Westernhagen breitet die Arme aus, wie Jesus in gestreifter Weste, und ich will ihn kreuzigen, ihn und Grönemeyer. Wer hat denen erlaubt, auf Deutsch über Liebe und Freiheit zu singen? Muss ja nicht. Mach ich das? Und auch Herr Fehrmann macht das nicht. Er repariert kaputte Leitungen und befreit mich, wenn Tanja nicht kommt. Er roch nach Zigaretten, eine der Haupttodesursachen bei alten Männern, neben jungen Frauen, die nicht kommen.
Dafür kam Linda pünktlich, und es gefiel ihr im Tierpark. Mir auch. Es gab billigen Kuchen. Ich finde Kuchen in Ordnung, der so schmeckt wie die Pappschachtel, in der die Backmischung war.
Frau Kobow rät mir kurz vor Feierabend zu einem Haustier. «Ich habe Silberfischchen», sage ich ihr. Sie meinte so was wie eine Katze oder einen Hund. Etwas mit einer Nase. Sie redet lange über die Vorteile eines Hundes und die Nachteile einer Katze. Hauptsächlich ist die Katze kein Hund, entnehme ich dem. Ich sollte einen Hund haben, dann wüsste ich mehr über Kindererziehung. Auf dem Pfad der Erkenntnis, während ich Fifi um den Wohnblock Gassi führe. Schlag dein Kind nicht mit der Hand? Schlag dein Kind mit der Zeitung? Meine Kinder sind zu groß zum Schlagen, die haben dann immer so Argumente dagegen. Mein Vater hat mich noch richtig von Hand erzogen, immer feste. Und aufgezogen hat er mich auch, mit dem Zeigefinger auf mich gezeigt und gesagt: «Schaut doch mal alle, der Peter, der läuft über den großen Onkel.»
Frau Kobow kommt endlich zu dem, was sie eigentlich erzählen will, nämlich ihrem eigenen Hund. Wie ich das verstehe, ein müdes, verdrehtes Geschöpf mit bettelnden Augen. Ein Beagle, der nach seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Laborratte seinen Ruhestand bei einer Durchschnittsfamilie verbringen darf. Den Lebensabend. Guten Abend, Leben. Frau Kobow zeigt mir Fotos. Ohne lange zu überlegen sage ich: «Niedlich.» Ich meine es
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