Die Titanic und Herr Berg
Schrankwand. Ich bin gefesselt. Peter isst draußen mit seinen Eltern. Ich rieche Bratensoße, aber Peter versteckt mich. Dann schiebt er mir ein Leberwurstbrötchen unter der Türschwelle durch, aber er hat die Wurst zu dick draufgeschmiert, er hat es gut gemeint, aber die Türschwelle ist zu niedrig und die Leberwurst wird abgestreift. Bei mir kommt nur das Brötchen an und auch das kann ich nicht essen, weil ich gefesselt bin. Peters Mutter sagt, Peter solle das Mädchen aus dem Zimmer holen, alle wissen, dass sie seit Jahren da drin ist. Ich will gar nicht, dass Peter mir die Fesseln abnimmt. Er soll nur zu mir ins Zimmer kommen. Ein Telefon klingelt, meins.
Ich bin nicht mehr in Peters Jugendzimmer, weg. Es ist etwas nach drei in der Nacht. Um die Uhrzeit ruft Katrin nicht an. Gesine ist am Apparat. Sie ist sehr aufgeregt, sehr. Sie redet sehr schnell. Sonst redet sie langsam. Jedes Wort rastet sonst wie ein Zahnrad in den Satz ein. Sie weiß, was sie sagt, sonst, sie sagt es bewusst, immer. Ihre Sätze klackern. Jetzt aber drehen sich die Zahnräder wie verrückt. Gesine fragt mich, ob sie mich geweckt hat. Hat sie, aber ich bin gar nicht richtig wach. «Nicht schlimm!», sage ich. Gesines Katze ist krank. Gesines Katze heißt Mulle und ist alt. Ina und ich fragen immer: «Was, die lebt noch?», wenn Gesine von Mulle erzählt. Sie hat schlecht gefressen. Sie hat an der Butter geleckt und in eine Ecke gekackt.
«Na immerhin kackt sie noch», hat Ina mal geschrien.
Gesine zieht dann eine Fresse und sagt: «Das-klack-finde-klack-ich-klack-nicht-klack-lustig!» Satz zu Ende. Mulle ist riesengroß und rot, nicht getigert, nur rot, wie Boris Becker. Gesine sagt, dass Mulle kaum atmen kann und den Kopf schief hält. «Ich habe solche Angst», sagt Gesine und sie sagt es schnell. Ich bin müde, aber kann schon schnell hören. Ich erlebe Gesine nicht zum ersten Mal in dieser Aufregung. Sie war ähnlich, als sie dachte, sie wäre schwanger, aber nicht von Tom. Ich gähne und drücke meinen Daumen zwischen die Augenbrauen.
«Soll ich zu dir kommen?», frage ich.
«Ich hole dich ab. Ich habe das Auto von meinen Eltern. Ich fahre gleich los.» Gesine rattert die Antwort.
Normalerweise fährt sie sehr langsam und besonnen, sonst, aber wenn sie schnell spricht, fährt sie auch schnell. Gleich wird sie da sein.
«Gut», sage ich. «Bis gleich.»
Gesine verabschiedet sich nicht. Bevor die Verbindung unterbrochen wird, kann ich kurz im Hintergrund Folterkammergeräusche hören, schlimm. Es klingt wie eine blutige Schlacht zwischen zwei Kinderheimen. Das muss Gesine das Herz zerren, wenn die Katze Schmerzen hat. Ich kann mir das vorstellen, aber nicht mitfühlen. Eine Katze ist doch kein Kind. In mir weint immerzu ein Kind und ich weiß wie schlimm, ich habe selber eine Mutter verloren. Mulle ist einfach nur alt. Gesine ist nur ein bisschen älter als Mulle. Ein biblisches Alter für eine Katze, sagt Gesine immer.
Mulle ist neunzehn Jahre alt. Sie wurde angeschafft, als Gesine erst eine Weile auf der Welt war, damit sie einen Spielkameraden hat. Weitere Kinder waren nicht geplant, nicht mal Gesine war geplant. Sie ist ein Ausrutscher und scheinbar wollten die Eltern nicht allzu viel mit ihrem Ausrutscher spielen, deshalb die Katze, deshalb Mulle. Katzen sind keine guten Gefährten für Kinder, sie kratzen und laufen weg und spielen ohne Rücksicht auf Verluste. Gesine war immer zerkratzt. Da fielen auch die blauen Flecken nicht auf. Am Anfang hieß Mulle Nina, aber Gesine sagte zu der Katze Mulle, kaum konnte sie sprechen.
Ich habe Peter mal von Gesine und Mulle erzählt, und ihm ist nur eingefallen, dass es eine hässliche Tierart gibt, die Nacktmulle heißt. Die hässlichste Tierart unter Gottes Erde, wie Peter sagte. Er findet, dass man diese Tiere einfach mit Kleber einstreichen sollte und in Haaren panieren, damit sie nicht so Mitleid erregend aussehen. Das denkt er über die Welt, mit Kleber einstreichen und in Haaren panieren.
Ich ziehe mich an, mache das Bett, stecke meinen Ausweis in die Gesäßtasche und warte, warte, warte. Es klingelt.
Gesine hat mir die Autotür schon weit geöffnet und ich will reinspringen, weil ich mich ihrer Geschwindigkeit anpasse, fix. Inzwischen bin ich auch wach, hell. Auf dem Beifahrersitz ist ein jammernder Weidenkorb, den ich nach hinten packen will, aber Gesine sagt, ich solle ihn auf den Schoß nehmen. Aus dem Weidenkorb dringen ein unvorstellbarer Geruch und ein Jammern.
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