Die Tochter Der Goldzeit
verschmiert von Milch, Blütenblättern und Erde, mit der halbleeren Milchflasche deutete sie dorthin, wo der fremde Gedanke hergekommen war, in den Wald.
Ihr Vater und die Meisterin blickten zu ihr herunter. Beide machten verwunderte Gesichter, als hätten sie nicht verstanden.
»Ja, einen Schatz!«, krähte sie, und der Blick ihrer großen, damals schon grauen Augen wanderte fragend zwischen den beiden Erwachsenen hin und her. Wenn die nicht wussten, wem der fremde Gedanke in ihrem Kopf gehörte, wer dann?
Und wirklich, sie wussten es nicht, schienen nicht einmal zu wissen, dass es überhaupt einen fremden Gedanken gab.
Grittana neigte nur den Kopf auf die Schulter und musterte sie nachdenklich. »Was hast du, Katanja?«
Ihr Vater Tondobar machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ist gut, Kleines!« Er war ungeduldig, beachtete sie kaum - etwas Dringenderes als fremde Gedanken im Kopf seiner kleinen Tochter fesselte wohl seine Aufmerksamkeit. Vielleicht die Hütedogger und Jagdcaniden, die jetzt überall wie erstarrt am Hang standen und mit aufgestellten Ohren den Waldrand belauerten; vielleicht auch die beiden Vögel, die immer tiefer sanken und bereits dicht über den Wipfeln des südlichen Waldrandes kreisten. Unglaublich große und weiße Vögel waren das!
»Lauf!« Katanjas Vater deutete zu den Frauen und Kindern am oberen Waldrand. »Schnell, zu den Müttern! Lauf endlich!«
Na gut, wenn es Dringenderes gab als fremde Gedanken in ihrem Kopf, dann lief sie eben. Sie mussten es ja wissen, die Erwachsenen. Das Mädchen drehte sich also um und lief. Rannte an den Kindern vorbei, die nicht mehr balgten und anfeuerten, die nur noch in den Himmel staunten, rannte zurück zum schwarzen Lamm und zu Polder, dem jungen Hütedogger.
Niemand achtete darauf, dass sie nicht zu den Müttern lief, weder ihr Vater noch die Meisterin, noch sonst jemand - das merkte Katanja, als sie sich noch einmal nach den beiden Vögeln umdrehte. Die fesselten inzwischen die Aufmerksamkeit sämtlicher Erwachsenen und der meisten Kinder. Und kein Wunder, so ungeheuer groß und weiß, wie sie waren.
Der Lammbock sprang durchs hohe Gras am unteren Waldrand, Polder umkreiste ihn kläffend. Ein Vogel oben in der Luft pfiff plötzlich wie in Todesnot: ein Greif. Das Mädchen blickte auf - einer der ungeheuer großen und weißen Vögel stieß auf einen kleineren dunklen herab, auf einen Habicht. Hatte er das Vogelpaar angegriffen? Ein Hieb mit dem langen roten Schnabel, ein letzter, schon ersterbender Schrei, und dann trudelte der dunkle Greif inmitten einer Wolke aus Rücken- und Flaumfedern der Lichtung entgegen. Katanja konnte hören, wie er im Gras aufschlug.
Pfiffe und das Echo von Pfiffen gellten auf einmal von Waldrand zu Waldrand. Der Erste Wächter des Tores hatte gepfiffen, Tondobar, drei Mal. Augenblicklich verstummten Gelächter, Gesang, Stimmengewirr und Musik endgültig. Sämtliche Caniden schlugen nun an. Katanja hörte die Stimme ihres Vaters Befehle rufen, und eine einzige Bewegung ging durch Menschen und Tiere am Wiesenhang: Kinder, Ziegen, Schafe, Frauen, Greise, halbwüchsige Mädchen und Jungen und zuletzt ein halbes Dutzend bellender Caniden - sie alle eilten dem oberen Waldrand entgegen. Hinter Tondobar, keine zweihundert Schritte tief im Wald, lag das große Felstor zur Bergstadt. Wildes Gewimmel erfüllte plötzlich die Lichtung, und als ein Greis stürzte und ein Mammutwidder zwei Frauen umriss, die sich nach dem Alten bückten, brach ein Tumult los.
Jetzt hatte keiner mehr Augen für sie, und Katanja rannte zum Waldrand, denn dort zwischen den jungen Buchen und Eichbüschen waren Polder und das Lamm verschwunden. Sie sah noch vier schwarze Kolks aus den Eichenwipfeln des unteren Waldrands den Wiesenhang hinaufflattern - Boten mit Nachrichten von den Außenposten unten am Fluss -, dann umfingen sie das Halbdunkel und die feuchte Kühle des Waldes.
Sie hörte Zweige brechen, sie hörte den Lammbock meckern und den Hütedogger hecheln. »Polder!« Sie vergaß die Aufregung auf der Lichtung, vergaß ihre Furcht. Schneller sprang sie ins Unterholz, folgte einfach den Geräuschen der Tiere. »Warte auf mich, Polder!« Einmal sah sie den Caniden und das Lamm, dann wieder hörte sie die Tiere nur, dann wieder stand Polder irgendwo zwischen Bäumen, spähte zu ihr zurück und kläffte, als wollte er sie auffordern, sich zu beeilen. Und sie lief noch schneller, lief einen Hang hinunter, balancierte auf Steinen über einen
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