Die Tochter Der Goldzeit
Mantel, wärmte sie in den Fäusten. »Wie heißt du?«
»Waller Rosch«, keuchte der Tiefländer.
Um ihn zu beruhigen, setzte sie die Flöte an die Lippen und begann zu spielen. Ein langsames Stück, das Friedjan ihr beigebracht hatte. Der Gedanke an ihren Bruder erfüllte sie mit Heimweh, und die ruhige Melodie geriet unter ihren Fingern und Lippen wehmütiger als sonst. Bald atmete Waller Rosch ruhiger, seine Halsschlagader pulsierte langsamer. Ohne ihre Melodie zu unterbrechen, tastete Katanja sich in seinen Geist hinein. Sie sah das Meer, sah den jungen Burschen am Heck eines Schiffes stehen und einem brennenden Floß hinterherblicken. In den Flammen verbrannte seine tote Mutter.
Er wandte ihr sein zerschundenes Gesicht zu. »Ich weiß, wer du bist«, flüsterte er. Er benutzte die Sprache, die sie auf den Inseln des Westmeeres sprachen. »Du bist eine Tochter der Goldzeit.«
»Schweig«, herrschte sie ihn in der gleichen Sprache an.
»Was sagt er?«, fragte der Hauptmann hinter ihr.
»Er bittet darum, dass ihr aufhört, ihn zu quälen.«
»Er soll einen Dialekt benutzen, der hier bei uns am Stromufer gesprochen wird, damit ich ihn verstehen kann!«
Katanja wechselte in die harte Sprache der Pfahlbausiedler. »Du hast verstanden, was der Hauptmann sagt.« Die Tiefländer-Stämme waren Seefahrer und Nomaden; sie kamen weit herum und beherrschten in der Regel mehrere Sprachen und Mundarten. »Warum hast du unsere Siedlung ausgespäht, Waller Rosch?«
Er schwieg, aber seinen Gedanken entnahm sie, dass der Dreimaster seiner Sippe ein paar tausend Längen stromabwärts ankerte, zwanzig Stunden Fußmarsch entfernt. Rosch war ein Sohn des Capotans, wie die Tiefländerhorden ihre Hauptmänner nannten.
»Seid ihr auf Kriegszug?«
Keine Antwort, doch Roschs Gedanken kreisten um Hunger und leere Laderäume. Katanja sah einen großen, grimmig blickenden Mann von gut fünfzig Wintern mit gelb-schwarz geschecktem Kahlkopf. Eine Kriegsrotte aus vielleicht sechzig Bogenschützen und Schwertkämpfern pirschte sich unter seiner Führung nur noch einen Tagesmarsch entfernt durch den Wald. All das las Katanja im Geist des zerschundenen Burschen.
Und Angst spürte sie. Eine tiefe Angst, die nichts zu tun hatte mit dem Hauptmann, seinen Jägern und ihrer Grausamkeit. Die Angst des Burschen machte Katanja neugierig. »Warum habt ihr die Küsten und Inseln des Kleinen Südmeeres verlassen?«, wollte sie wissen.
»Fremde Krieger sind an den südlichen Küsten gelandet. Schon ein paar Winter her.« Er sah sie an. »Manche stecken in schwarzen Eisenrüstungen. Du erschrickst schon vom bloßen Hinschauen.« Wieder benutzte er die Sprache der Westinsulaner. »Ein eiserner Riese ist ihr Capotan. Der kann Blitz und Donner schleudern.« Er sprach hastig, und seine Stimme war brüchig. »Ohne dich zu berühren, schlägt er dich nieder .« Er schnappte nach Luft.
»Und ihr seid auf der Flucht vor diesen Fremden?«
»Wir weichen ihnen nur aus, sie sind uns zu stark. Wir wollen unser Glück im Norden versuchen.«
Der Hauptmann sprang auf. »Er soll reden, wie wir reden!« Er trat dem Burschen in die Nieren. Waller Rosch krümmte sich zusammen. »Er soll so reden, dass ich ihn verstehe!« Sein wütender Blick traf Katanja. »Was hast du in seinen Gedanken gelesen?«
»Er gehört zu einer Gruppe Schiffbrüchiger.« Katanja steckte die Flöte weg und stand auf. »Ein entkräftetes, hungerndes Pack.« Sie sprach laut und deutlich, und Waller Rosch hing an ihren Lippen.
»Die Überlebenden seiner Sippe lagern weit entfernt und halten sich mit Jagd und Vogelfallen über Wasser. Lass ihn frei, Hauptmann. Lass ihn frei, und du gewinnst Verbündete.«
»Ihn freilassen? Bist du verrückt? Er wird ihnen erzählen, dass wir ihn geprügelt haben!«
Am Hauptmann vorbei blickte Katanja auf Waller Rosch hinunter. »Geprügelt also ...« Das zerschürfte und geschwollene Gesicht des Poruzzen war schmerzverzerrt. Der Blick seiner hellblauen Augen heftete sich an sie. Bleib noch, sagte dieser Blick, lass mich nicht mit ihnen allein .
»Behandle ihn wenigstens so, wie man eine Geisel behandelt, wenn man ein fühlendes Herz im Leib hat. Vielleicht kommst du dann ins Geschäft mit denen, die ihn suchen.« Ein letzter Blick auf den Gefangenen - noch immer versuchten seine Augen, sie festzuhalten. Ein Staunen lag in ihnen: Er hatte jedes Wort verstanden.
Kapitel 15
Keine verbotene Waffe zerstörte die Tore von Tikanum. Vielleicht besaßen die
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