Die Tochter Der Goldzeit
zehnte der Belagerung. Doch drei Tage vor Vollmond entdeckten Habichte aus dem Heer des Eisernen eine Waldläuferin der Sozietät. Die Greife pfiffen, bis zwei Wildsaujäger auf die Frau aufmerksam wurden. Zwar konnte sie sich in die Erdstadt retten, doch nun kannten die Belagerer auch das Osttor.
Tarsina sagte den Ausbruchsversuch sofort ab - und damit starb die letzte Hoffnung, an die sich die Bewohner der Erdstadt geklammert hatten. Bleierne Mutlosigkeit legte sich auf die Sozietät, Todesahnung wehte durch Gänge und Hallen, überall hockten die Menschen reglos; die meisten stierten stumm vor sich hin. Lange Zeit lag auch Bosco nur wie gelähmt auf seinem Lager und lauschte dem rhythmischen Donnern der Rammen.
Dann kam der Tag, an dem der Eiserne vor dem Osttor erschien. Ein Torwächter verbreitete die Nachricht in der Erdstadt. Bosco war einer der Ersten am Tor. Zwei Okulare gab es dort, durch die man über in den Fels eingelassene Fernrohre in die Höhle auf der anderen Seite des Tores blicken konnte. Nicht nur der Eiserne stand dort in der Menge seiner Krieger - auch der Zwerg mit den Augengläsern und sein grauer Ritter mit dem ständig geschlossenen Visier. Wie die Primomziere der Jusarikaner und der Zwerg selbst, trug auch sein Kriegsmeister einen roten Mantel. Zum ersten Mal sah Bosco ihn aus der Nähe. Er war lange nicht so groß wie der Eisenkerl, überragte aber selbst den größten Wildsaujäger unter den Kriegern noch um Haupteslänge. Wie einst in Chiklyo fielen Bosco wieder die Augenschlitze seines Visiers auf: Hinter ihnen leuchtete es, als würden weiß-blaue Flammen unter seinem Helm lodern; es war das gleiche Leuchten, das auch aus den Augenschlitzen des schwarzen Riesen strahlte.
Bosco fröstelte.
»Ihr müsst eines begreifen!«, rief der Eisenriese. »Niemand hält sie auf, die Neue Goldzeit!« Dumpf tönte seine tiefe, monotone Stimme hinter dem verschlossenen Osttor. »Ihr öffnet das Tor, und ihr seid dabei! Ihr verbarrikadiert euch weiter, und sie wird über euren Gräbern anbrechen!«
Die verstörten Menschen, die sich hinter Bosco versammelt hatten, standen wie festgefroren.
Am nächsten Tag begannen die Belagerer, auch dieses Tor mit ihrer Ramme zu bearbeiten. Es war, als würde die Gewissheit des nahen Endes durch die Erdstadt pulsieren und ihre Bewohner in immer tiefere Verzweiflung stürzen.
Alle sieben Tage erschienen der Eiserne und der Winzling vor einem der Tore. Oft begleitete der graue Ritter sie, der Kriegsmeister des Zwergs, manchmal ein massiger Schwertträger mit grauen Zöpfen. Die Meisterin Tarsina hielt ihn für den Hexer, den sie am Brunnenplatz von Pugium gesehen hatten. Jedes Mal forderte der Eiserne die Übergabe der Erdstadt und Späher, die ihn und seine Krieger nach Altbergen führen sollten.
Bis zum Ende des Sommers töteten sich über dreißig Mitglieder der Sozietät selbst. Wenn Bosco durch die Hallen und Gänge schlurfte, sah er eine einst blühende Kleingesellschaft zerfallen: Kinder kauerten in Ecken und schaukelten monoton mit dem Oberkörper; Halbwüchsige schlugen sich die Schädel an den Wänden blutig; in den Betten des Sozietätshospitals lagen viele Menschen, die fieberten, Durchfall hatten oder verhungerten, weil sie die Nahrungsaufnahme verweigerten; in der oberen Vorhalle stritten Männer und Frauen mit den Ältesten, weil einige Kapitulationsverhandlungen forderten und andere Durchhalteparolen predigten; und kaum eine Woche verging, in der Bosco nicht die Leiche eines Selbstmörders sehen musste.
Er schlief schlecht und unregelmäßig. Oft suchte er in dieser Zeit die Nähe seiner Schwester und ihrer kleinen Familie. Auch die Meis-terin hielt sich häufig in Valenas Wohnkuppel auf und hütete deren Töchterchen. Die kleine Ginalunis war der einzige Mensch, mit dem sie noch lachte und mehr als einen Satz sprach.
Fünfzehn Monde dauerte die Belagerung. Das Ende kam an einem Wintertag im letzten Mond des Jahres 488, und es kam schnell.
Bosco und ein Waldläufer trugen gerade eine junge Frau, die sich das Leben genommen hatte, aus der Wohnkuppel ihrer Familie. Als sie mit der Trage die Halle der mittleren Ebene durchquerten, fiel Bosco das aufgeregte Gezwitscher in der Singvogelvoliere auf. Er wandte den Kopf, um nach den tschilpenden Vögeln zu sehen - und hielt den Atem an: Ein Habicht klammerte sich von außen an das engmaschige Drahtgitter! Es lebten keine abgerichteten Greifvögel in Tikanum.
»Sie haben einen Zugang gefunden!«,
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