Die Tochter der Hexe
unfreundlich. Unwillig öffnete sie die Augen und sah über sich das schmale, gut geschnittene Gesicht eines jungen Mannes.
«Jonas!» Sie lächelte.
«Ich heiße Vitus. Aber Ihr könnt mich auch Jonas nennen, wenn Ihr nur wieder aufsteht. Haltet Euch an meiner Hüfte fest, dann ziehe ich Euch hoch.»
Als sie endlich aufrecht neben ihrem Helfer stand, sah sie, dass der Mann viel kleiner und schmächtiger war als Jonas. Er brachte sie bis zum Portal der Kapelle.
«Geht es wieder?»
«Ja, es war nur ein kurzer Schwächeanfall. Habt vielen Dank.»
«Ihr seid nicht von hier, nicht wahr?»
«Ich gehöre zu den Spielleuten draußen vor der Stadt. Wir können nicht weiterziehen, bei dem vielen Schnee. Seit Wochen schon sitzen wir dort fest.»
«So wie Ihr ausseht, geht es Euch ziemlich übel.»
Marthe-Maries Augen füllten sich mit Tränen, und sie schämte sich dafür.
«Die Kinder haben Hunger, und einer von uns ist sterbenskrank. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll», sagte sie leise.
«Ihr müsst beim Spitalmeister vorsprechen. Das Spital ist reich, ihm gehören viele Höfe und Wälder und sogar eine Mühle, und es ist daher nicht auf die hiesigen Bauern angewiesen. Es ist verpflichtet, an die Armen Brennholz und Essen auszugeben.»
«Aber wir sind Fremde, wir haben kein Recht auf Almosen.»
«Doch, habt Ihr, wenn Ihr seit einem Monat oder länger aufWaldseer Gebiet lebt. Das ist eine Verordnung des Magistrats, und darauf könnt Ihr Euch berufen. Habt Ihr Kinder?»
«Eine kleine Tochter.»
«Dann überwindet Euren Stolz und geht zum Spital.»
Er öffnete das Kirchenportal und drückte ihr zum Abschied kurz den Arm. Dann war er verschwunden.
Sie tauchte ihre Hand in das Weihwasser, das ihr angenehm warm erschien, und bekreuzigte sich. Das Kirchenschiff war voller Menschen, die hier in ihrer Not Hilfe suchten. Trotzdem herrschte eine fast feierliche Ruhe. Marthe-Marie betete drei Ave Maria und drei Vaterunser, dann hielt sie Zwiesprache mit Gott, er möge Gnade zeigen und ihnen helfen. Sie gedachte der vielen Toten aus ihrer Familie und dem Kreis ihrer Gefährten. Zuletzt sprach sie noch ein Gebet für Caspar, diesen guten, stillen Mann, und bat Gott um dessen Rettung.
Doch für Caspar war die Zeit abgelaufen. Vielleicht hätte ein Wundarzt sein Leben mittels Amputation der brandig gewordenen Hände retten können. Aber wahrscheinlich hätte Caspars ausgezehrter Körper das ohnehin nicht lange überlebt. Inzwischen waren auch die Füße vom Brand befallen und sein Leib aufgetrieben wie eine Rindsblase. Sein entstellter, verstümmelter Körper ließ ihn aussehen wie ein Leprakranker, doch die Frauen wussten, dass dies kein Aussatz war und dass es keinen Grund gab, Caspar in den letzten Tagen seines Lebens von den anderen fern zu halten. So befand sich stets jemand an seinem Lager, Nase und Mund hinter Tüchern verborgen, um den bestialischen Gestank, den seine abgestorbenen Glieder verströmten, zu ertragen. Als es dem Ende zuging, stieg Marthe-Marie ein zweites Mal den Frauenberg hinauf, um den Priester zu holen, denn Caspar war Zeit seines Lebens gläubiger Katholik gewesen. Ohne Aufhebens und ohne die Erlaubnis des Propstes einzuholen, begleitete der Priester sie ins Lager und spendete die Sterbesakramente. Sogar zur Bestattung inseinem kleinen Kirchhof erklärte er sich bereit, sobald das Wetter die Überführung des Leichnams zulassen würde.
Zunächst schien es, als sei Caspar der einzig Unglückliche gewesen, den das Antoniusfeuer heimgesucht hatte. Dann aber kehrte Hans nach acht Tagen Turmstrafe ins Lager zurück, und mit ihm nur noch zwei seiner vier Musikanten: Die beiden ältesten waren schon kurz nach der Festnahme krank geworden, bald darauf begannen sich ihre Finger und Zehen schwärzlich zu verfärben, und man brachte sie als vermeintlich Aussätzige ins Siechenhaus vor den Toren der Stadt. Niemand wusste, ob sie noch am Leben waren.
Längst litt jeder von ihnen an der Auszehrung, hustete oder klagte über Hals- und Kopfschmerzen. Erst wurden Antonia und Lambert von hohem Fieber befallen, dann Salome und der Prinzipal und schließlich auch die kleine Lisbeth. Die anderen hatten alle Hände voll zu tun, sich um die Kranken zu kümmern, sie je nach Hitzeanfall auf- oder zuzudecken, Wadenwickel anzulegen und für ausreichendes Trinken zu sorgen. Marusch wich nicht von der Seite ihrer kleinen Tochter, und Agnes legte sich neben ihre Freundin, mit der Behauptung, ebenfalls sehr krank zu
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